Die schonende Abwehr verliebter Frauen oder Die Kunst der Verstellung - Soboczynski, A: Die schonende Abwehr verliebter Frauen
doch ihre Missgunst tritt durch die zivilisatorische Triebhemmung häufig |61| nur als verstellte an uns heran. Sie suchen uns nicht zu würgen. Doch das macht sie nur weniger durchschaubar. Denn weitaus
gefährlicher als ihr blanker Hass ist ihre Schmeichelei. Überaus misstrauisch sollten wir immer sein, wenn eine blendende
Freundlichkeit uns begegnet.
Es gibt Menschen, auf die ein besonderes Augenmerk gelegt werden muss, wenn wir mit ihnen in Konkurrenz treten. Besonders
geschickt in der Verstellungskunst und daher immer besonders gefährlich sind Aufsteiger, die mit zäher Geduld sich nach oben
gekämpft haben, sie werden, gegen alle Wahrscheinlichkeit, französischer Präsident oder Bundeskanzler. Denn sie verharren,
was ein großer Vorteil ist, immer mit einem fremden Blick auf der Gesellschaft, die sie nun erobert haben, in die sie aber
nicht blind hineingewachsen sind. Sie durchschauen die Nuancen des Verhaltens weitaus besser als jene, die niemals anders
gelebt haben.
Der Soziologe Georg Simmel hat denjenigen, der eine Gesellschaft am besten begreift, als den »Fremden, der bleibt« bezeichnet.
Der Fremde, der bleibt, das kann der Zugezogene sein, der Aufsteiger, der vom eigenen Körper Gekränkte, der einst Gehänselte.
Durch einen Makel stand er stets im Abseits, durch einen unschönen Sprachfehler, ein Humpeln oder durch seine Herkunft, doch
durch die Beobachtung seiner Umgebung erlernte er die tückischsten Künste.
Mit dem Interesse des Naturforschers, der sich über eine seltene Blume beugt, nimmt der Fremde, der bleibt, der also auf ewig
zumindest partiell abseits Stehende, feinste |62| Verästelungen im Gefüge der Menschheit wahr. Deshalb können Sie sich glücklich schätzen, wenn Sie zu den Fremden, die bleiben,
gehören. Wenn nicht, sollten Sie, Proteus gleich, ihre Maske aufziehen.
Nicht zufällig sind die größten Verstellungskünstler der Weltliteratur, beispielsweise Shakespeares großer Intrigant Richard
III., von ausgesprochen hässlicher Gestalt. Indes, das Schicksal hat sie, die zunächst Ausgegrenzten, zu kenntnisreichen Beobachtern
ihrer Umgebung gemacht. Denn ihre Schwächen haben sie in Waffen verwandelt, ihre Gebrechen in Vorteile. Georg Christoph Lichtenberg,
ein Aphoristiker der Aufklärung, bucklig und klein von Gestalt, sagte: »Sobald einer ein Gebrechen hat, so hat er seine eigene
Meinung.« Paris, der blühend schöne Feigling der Antike, der Frauenversteher, ist nicht mit Muskelkraft gesegnet. Er erlegt
Achill, den stolzesten Kämpfer, mit einem listigen Schuss in die Ferse. Und nicht etwa im offenen Schwertkampf, da wäre er
ihm gewiss hoffnungslos ausgeliefert gewesen.
Es gibt Philosophen, die aus der körperlichen Schwäche der Menschheit selbst ihre unbändige Lust an der Verstellung abgeleitet
haben. Da Menschen der Hörner und Hauer entbehrten, bedurften sie des Giftpfeils. Statt mit roher Gewalt kämpften sie mit
Fallen, in die das muskulöse Opfer sich heillos verstrickte. Das präge uns noch heute: Denn nicht Klauen, die uns reißen,
gelte es tagtäglich zu fürchten, sondern die mit Engelszungen verbreiteten Lügen der scheinbar Unterlegenen. Das, in etwa,
sei Zivilisation, sagt Nietzsche. |63| PS: Baltasar Gracián hat noch einen Personenkreis ausfindig gemacht, vor dem man sich hüten sollte. Er gab den Ratschlag:
»Sich nicht mit dem einlassen, der nichts zu verlieren hat.« Wer nichts zu verlieren hat, kann alle Vorsichtsmaßnahmen außer
Acht lassen und uns mit roher Gewalt angreifen. Ihm ist es egal, wenn er Schaden davonträgt. Wer nichts zu verlieren hat,
steht außerhalb der Zivilisation. Glück hat, wer ihm nie begegnet.
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|64| 10 SICH ENTSCHULDIGEN KÖNNEN
K eine Strategie darf überreizt, keine Kunst zur durchschaubaren Masche werden. Unklug wäre es beispielsweise, es mit dem Sich-Entschuldigen
zu übertreiben. Es gibt Menschen, die sich furchtbar oft entschuldigen. Sie fassen einen am Abend roh an, beleidigen einen,
und am nächsten Tag kommt dann der mit zerknirschter Stimme vorgebrachte Entschuldigungsanruf. Es heißt dann, ja, man sei
betrunken gewesen, das habe man nicht so gemeint, natürlich denke man durchaus nicht, dass der am Abend zuvor im Eifer des
Alkoholkonsums als »verlogener Blödmann« Bezeichnete in Wahrheit ein verlogener Blödmann sei. Es sei dem Beleidiger ungeheuer
peinlich, er habe sich im Ton vergriffen. Ob ihm vielleicht Verzeihung zuteil werden
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