Die schonende Abwehr verliebter Frauen oder Die Kunst der Verstellung - Soboczynski, A: Die schonende Abwehr verliebter Frauen
Ferne muss im Antlitz des Abgelehnten eine sehnende Traurigkeit liegen, ein Stolz, der die Angebetete im Stillen erschüttert.
Denn wie oft wendet sich erst |86| nach einer ersten Absage das Blatt. Die unangenehme Spannung, die vorher herrschte und die in der Unklarheit über die Beschaffenheit
der Beziehung gründete, scheint zunächst gelöst: Lass uns Freunde bleiben, heißt es dann. Und man bestellt, um auf die Freundschaft
anzustoßen, noch einen Wein. Dann einen zweiten. Es wird gelacht. Und unversehens finden die Körper doch noch zueinander.
Wer indes mit Entrüstung sich vorzeitig vom Spieltisch der Liebe entfernt, ist ein schlechter Verlierer, der durchaus noch
hätte gewinnen können.
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|87| 14 ALLE BLENDEN
A lle blenden. Der Bahnschaffner, der, nach diversen Freundlichkeitsseminaren, Ihnen neuerdings einen »wunderschönen Tag« wünscht;
die vertrauensseligen Blicke auf den von PR-Büros inszenierten Politikerbildern; die gutgelaunten Kollegen in Ihrem Büro;
Ihr Bankberater, der sich überaus freundlich nach dem Wohlergehen Ihrer Kinder erkundigt und wenige Minuten später zum Abschluss
eines Ratenkredits drängt, während eine knapp bekleidete Mitarbeiterin herbeihastet, um Ihnen Kaffee nachzuschenken.
Flirrend unentschieden bleibt stets, ob die Gesten des Körpers unreflektierter Höflichkeit oder bewusst eingesetzter Einschmeichelungstaktik
folgen. Im Zweifel gehen Sie vom Letzteren aus, wissend, dass Ersteres suggeriert werden soll. Ihr Misstrauen zeigen Sie nie
offen, das gäbe Ihnen ein unfreundliches Antlitz, Sie sind stets angenehm im Umgang, von beinahe naiver Herzlichkeit. Doch
Ihre Sinne sind jederzeit geschärft, wie die eines Schützen beim Elfmeter.
Alle blenden. Die Geschichte vom Winzer haben wir gehört, der seine Macht durch eine wohlüberlegte Entschuldigung steigert;
vom Architekten Stephan Karst, der sich ungeschickt entrüstet, statt in der Niederlage bereits den |88| Gegenangriff zu erspähen; vom Nachwuchswissenschaftler, der einen altverdienten Professor mit Witz düpiert; von der Mutter,
die ihren Sohn durch die Erzeugung eines schlechten Gewissens an sich bindet.
Die meisten blenden, indem sie lügen. Und niemals täuschen sie, indem sie die Wahrheit sagen. Doch den Gipfel der Verstellungskunst
erreicht nur, wer in beiden Strategien ein vollendeter Meister ist.
Wenn Sie jemandem begegnen, der genau so misstrauisch ist wie sie selbst, der einen großen Verstellungskünstler sich nennen
darf, gilt es besonders klug zu verfahren. Er sucht mit allerlei Tricks nach ihrer Hauptneigung, um diese auszunutzen. Er
schmeichelt Ihnen wortreich, damit Sie sich verraten. Er sucht nach dem Geheimnis, das ihm zum Faustpfand wird.
Es schien Ihnen, dem Journalist eines monatlich erscheinenden Kulturmagazins, kurz nach dem Aufwachen, als sei der düsterste
aller düsteren Tage in diesem Winter angebrochen. Ein kleiner Spalt nur in der Wolkendecke, damit ein winziger Lichtstrahl
sich erbarmte, die Gesichter zu erhellen – ach, vergeblich wartete man auf derlei Trost seit Wochen. Der Blick aus dem Fenster:
ein hässliches Gemisch aus Regen und Schnee, es wehte leidend dreinblickende Passanten an, die zur Arbeit eilten mit ihren
blassen Gesichtern und ihren dicken Mänteln an den zerbrechlichen Gliedern. Welche Tageszeit gerade war, das verriet nur die
Uhr, die niederschmetternde Düsternis morgens, mittags und am frühen Abend war immer dieselbe. Und lediglich die finstere
Nacht |89| erbarmte sich regelmäßig, den Schlafbedürftigen in süße Träume zu ziehen, ihn für wenige Stunden aus seiner an Weltverachtung
grenzenden Schwermut herauszureißen.
Sie quälten sich an diesem Morgen widerwillig in die Tram, die Sie zur Redaktion befördern sollte. Zunächst saßen darin nur
Mütter mit ihren kreischenden, von der Eiseskälte erzürnten Kleinkindern, ihr Rheuma verfluchende Rentner und Selbstgespräche
führende, heillos verwirrte Gestalten jedes Alters. Im Winter zeigte diese Stadt ihr wahres Gesicht: Alle lebten, so schien
es Ihnen, nur aus Trotz.
Ausgerechnet Ihr Journalistenkollege Heiko Wenzel von einer von Ihnen nur wenig geschätzten, aber auflagenstarken Boulevardzeitung
stieg nach drei Stationen hinzu, erspähte Sie sogleich und rief: »Ah, mein lieber Freund!« Er setzte sich umstandslos neben
Sie, fluchte lautstark und lachend über das Wetter, machte einige ihm geistreich scheinende Bemerkungen über eine am
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