Die Schopenhauer-Kur
wär’s mit Kummer darüber, was er durchmachen muss? Oder mit Faszination oder sogar Identifikation mit seinen ungestümen sexuellen Gefühlen? Oder Bewunderung für seine Bereitschaft, trotz seiner Krebserkrankung
mit Ihnen, mit uns allen zu arbeiten? Und das ist erst der Anfang.« Pam hob die Stimme. »Wie können Sie keine Empfindungen haben?« Sie wandte den Blick von Philip und brach damit den Kontakt zwischen ihnen ab.
Philip antwortete nicht. Er saß reglos in seinem Sessel, nach vorn gebeugt, und schaute zu Boden.
In dem tiefen Schweigen, das auf Pams Ausbruch folgte, fragte sich Julius, wie er am besten weitermachen sollte. Oft empfahl es sich abzuwarten – eines seiner Lieblingsaxiome in der Therapie war: »Das Eisen schmieden, solange es kalt ist!«
Da er Therapie als das abwechselnde Hervorrufen von Affekten und ihre anschließende Integration betrachtete, dachte Julius über den Reichtum der heute geäußerten Emotionen nach. Zu viele vielleicht. Es war an der Zeit, zu Analyse und Integration voranzuschreiten. Einen Umweg wählend, wandte er sich an Bonnie: »Was war das mit dem › Gott sei Dank!‹ ?«
»Lesen Sie wieder mal meine Gedanken, Julius? Wie machen Sie das? Ich musste gerade an meinen Ausspruch denken und habe ihn bedauert. Ich fürchte, er ist falsch herausgekommen und klang spöttisch. Stimmt’s?« Sie schaute erst Pam und dann Philip an.
»Fand ich eigentlich nicht«, sagte Pam, »aber ja, im Rückblick ist doch Spott dabei.«
»Tut mir Leid«, sagte Bonnie. »Aber dieser siedende Kessel hier, Sie und Philip mit den ständigen Schüssen aus dem Hinterhalt – ich war einfach erleichtert über die Direktheit. Und Sie?« Sie wandte sich an Philip. »Hat Sie mein Kommentar gestört ?«
»Entschuldigen Sie.« Philip schaute weiterhin zu Boden. »Den habe ich gar nicht registriert, sondern nur das Funkeln in ihren Augen.«
»Ihren?«, sagte Tony.
»In Pams Augen.« Er wandte sich Pam zu; seine Stimme zitterte einen Moment lang. »In Ihren Augen, Pam.«
»Okay, Mann«, sagte Tony, »jetzt kommen wir zur Sache.«
»Hatten Sie Angst, Philip?«, fragte Gill. »Es ist nicht einfach, das rübergeschickt zu kriegen, stimmt’s?«
»Nein, ich war vollkommen mit meiner Suche nach einer Möglichkeit beschäftigt, nicht zuzulassen, dass ihr Funkeln, ihre Worte, ihre Meinung mir etwas ausmachen. Ihre Worte meine ich, Pam, Ihre Meinung.«
»Klingt, als hätten Sie und ich was gemeinsam, Philip«, sagte Gill. »Sie sind wie ich – wir haben beide unsere Probleme mit Pam.«
Philip sah Gill an und nickte, vielleicht ein Nicken aus Dankbarkeit, dachte Julius. Als klar schien, dass Philip nicht mehr zu bieten hatte, schaute Julius sich in der Gruppe um, um weitere Mitglieder einzubeziehen. Er ließ nie eine Gelegenheit aus, das Interaktionsnetz zu erweitern: Mit der Zuversicht eines Evangelisten glaubte er, je mehr Mitglieder an der Interaktion teilnähmen, desto effektiver würde die Gruppe. Er wollte Pam beteiligen – ihr Ausbruch gegen Philip hallte noch in der Luft wider. Zu diesem Zweck sprach er Gill an: »Gill, Sie sagen, es sei nicht einfach, Pams Kommentare rübergeschickt zu kriegen ... und letzte Woche bezeichneten Sie Pam als den obersten Gerichtshof – können Sie mehr dazu sagen?«
»Ach, das ist bloß meine Macke, ich weiß, ich bin mir nicht sicher, und ich kann das auch nicht so gut beurteilen, aber –«
Julius unterbrach ihn: »Stopp! Halten wir das mal genau so fest. Diese Äußerung.« Er wandte sich an Pam. »Schauen Sie sich an, was Gill eben gesagt hat. Hat es etwas damit zu tun, dass Sie meinten, Sie könnten oder wollten ihm nicht zuhören?«
»Genau«, sagte Pam. »Typisch Gill. Passen Sie auf, Gill, Sie haben gerade Folgendes verkündet: › Schenken Sie dem, was ich gleich sage, keine Aufmerksamkeit. Es ist nicht wichtig – ich bin nicht wichtig – es ist bloß meine Macke. Will keinem zu nahe treten. Hört nicht auf mich.‹ Damit disqualifizieren Sie sich nicht nur selbst, sondern es ist auch öde. Absolut ermüdend. Herrgott noch mal, Gill! Sie haben was zu sagen? Stehen Sie einfach auf und sagen Sie es!«
»Also, Gill«, fragte Julius, »wenn Sie es ohne große Einleitung sagen würden, wie wäre dann Ihre Formulierung?« Der gute alte Trick mit der Konditionalform.
»Ich würde zu ihr sagen – zu Ihnen, Pam –, dass Sie die Richterin sind, vor der ich hier Angst habe. Ich fühle mich unwohl – nein, ich bin regelrecht verschreckt in
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