Die Schreckenskammer
sicher.«
Er stand auf und ging, ganz offensichtlich aufgewühlt, hin und her, dann setzte er sich wieder. »Madame, bitte.« Er strich mir über die Hand. »Ich bin alt. Ich kann mich nicht erinnern, was so weit in der Vergangenheit passiert ist.«
Ich zog meine Hand unter der seinen heraus und strich nun ihm über den Handrücken. »Bei allem Respekt möchte ich doch behaupten, dass Ihr nicht viel älter seid als ich. Und ich muss Euch daran erinnern, dass Ihr selbst es wart, der seinen Männern befahl, mich von Milord fern zu halten, ich kann mich deshalb nur an Eure Erinnerung halten. Nun bitte, um meines Herzensfriedens willen, versucht es.«
Guy Marcel hatte viele Männer gesehen, die in Schlachten und Kriegen verletzt und verstümmelt worden waren; Guy de Lavals Bauchwunde hatte er selbst in Augenschein genommen. In all diesen Fällen war es ihm immer gelungen, eine ungewöhnliche Ruhe zu bewahren. Doch jetzt, da ich ihn lediglich bat, sich an Worte zu erinnern, wirkte er zermürbt. Ich glaubte nicht, dass sein Unvermögen, sich zu erinnern, ihn beunruhigte, sondern eher der Inhalt der Erinnerung.
Er rieb sich die Stirn, als würde sie schmerzen. »Nun gut«, sagte er gequält. »Ich werde es versuchen.«
Etwas Dunkles schien vom ihm Besitz zu ergreifen, als er zu sprechen anhub. »Die Wachen hörten aus der Entfernung Schreie, deshalb schickte ich augenblicklich weitere Beobachter in den Turm. Als Milord Gilles in Sicht kam, rannte er sehr schnell und in offensichtlicher Pein. Ich ließ sogleich das Tor öffnen. Er kam alleine hindurch und stürzte mir in die Arme. Zunächst keuchte er so, dass er kaum sprechen konnte. Als er seine Stimme wieder gefunden hatte, sagte er, dass der Keiler zurückgekehrt sei, und dass er selbst sich nur umgedreht habe und gelaufen sei. Und dass er geglaubt habe, Michel sei direkt hinter ihm. Aber als er sich umdrehte, habe er ihn nicht gesehen.«
Das hatte ich alles schon einmal gehört, noch am Tag dieses schrecklichen Ereignisses. Deshalb wollte ich mehr wissen. »Sagte er darüber hinaus noch etwas? Er musste doch schrecklich erregt gewesen sein.«
» Mir sagte er nichts weiter. Sein Großvater führte ihn gleich danach weg, damit man ihn beruhigen und ausführlicher befragen könne, wie er sagte. Ich sprach weder mit Milord Gilles noch mit Jean de Craon weiter über die Angelegenheit. Und auch mit sonst niemandem, wenn ich mich denn recht erinnere.«
Der Vogt starrte seine Hände an, die flach auf der Tischplatte lagen, als wollte er sich an ihr verankern. »Er keuchte, Madame. Er sagte kaum mehr außer dem bereits Erwähnten, dass er das Fehlen Eures Sohnes bemerkt habe. Deshalb kann ich nicht sagen, wie sein Gemütszustand genau beschaffen war. Aber Jean de Craon schien davon überzeugt, dass er sehr erregt sei.«
An dem Ausdruck auf Marcels Gesicht sah ich, dass in den Tiefen seiner Seele noch andere Gedanken lauerten. Da war etwas, das er sagen wollte, aber nicht konnte.
»Monsieur, Ihr dürft ganz offen mit mir sprechen. Meine Treue gilt nicht mehr Milord Gilles, sondern Gott und Seiner Eminenz. Fürchtet nicht, dass ich Euch verraten könnte.«
»Madame …«
»Ihr werdet nicht zur Rechenschaft gezogen, gleichgültig, was Ihr mir sagt.«
Einige Augenblicke starrte er ins Leere und wandte sich dann wieder mir zu.
»Madame, vergebt mir, aber ich meinte damals, Milord Gilles für einen kurzen Augenblick lächeln zu sehen.«
»Lächeln? Was meint Ihr mit lächeln? «
»Als wäre er … auf irgendeine Art glücklich oder zufrieden.«
Das war etwas, das ich bis jetzt nicht gewusst hatte; mein Kummer und meine Angst waren zu der Zeit allumfassend gewesen.
Ich hörte den Vogt sagen: »Ich erinnere mich an zwei Gedanken, die ich an diesem Tag hatte. Beide machten mich stutzig. Zum Ersten erschien es mir merkwürdig, dass Milord sich umdrehen konnte und weder Knaben noch Keiler sah. Man würde meinen, dass er den einen oder den anderen hätte sehen müssen. Aber nichts … es kam mir so unwahrscheinlich vor.«
»Und der zweite Gedanke?«
Er räusperte sich verlegen. »Ich weiß auch noch, dass ich während des ganzen Martyriums den Eindruck hatte, Milord sei eher … erregt denn bestürzt. Ich muss sagen, es passte zu seinem Lächeln.«
Ich zog mein mouchoir hervor und wischte mir ohne Scham die Tränen aus den Augenwinkeln. »War an Milord Blut zu sehen?«
Er hielt inne, um in seiner Erinnerung zu forschen. Nach einigen Augenblicken sagte er: »Ja. Auf
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