Die Schreckenskammer
bevor einer von uns ins Grab fuhr. Auch in den Augen dieses alten Mannes sah ich ein wenig von meiner Sehnsucht nach diesen früheren Tagen, nach einer Wiederholung der ruhmreichen Zeit, die wir einst gehabt hatten, eine Vorstellung, deren Unmöglichkeit ihr nichts von ihrem Reiz nahm.
Wir hatten etwa hundertdreißig Ellen in gegensätzlichen Richtungen zurückgelegt, als ich den Vogt rufen hörte: »Madame! Wartet!«
Ich brachte meinen Esel zum Stehen und drehte mich zu ihm um. Die mächtige Festung ragte hinter ihm in die Höhe und ließ ihn mit ihrer welkenden Pracht winzig erscheinen.
» Oui, Monsieur? «
Er trieb sein Pferd ein paar Schritte in meine Richtung, um nicht schreien zu müssen. »Die Hebamme, Madame Karle …«, hub er an. Dann zögerte er einen Augenblick, als überlegte er, ob es überhaupt ratsam sei zu sagen, was ihm auf der Zunge lag. »Sie selbst kann unmöglich noch am Leben sein, aber Ihr Sohn könnte durchaus noch auf Erden wandeln.«
Ich erinnerte mich noch gut an ihn. »Guillaume«, sagte ich.
» Oui, ebenjener.« Er sagte uns, wo der Mann wohnte, nicht weit von unserem Weg entfernt. »Vielleicht solltet Ihr ihn aufsuchen.«
22
Ich brauchte in diesem Fall einen Vertrauten. Frazee und Escobar waren Kumpel und Kollegen, aber ich brauchte einen Freund. Errol Erkinnen stand mir immer zur Verfügung, und dafür war ich ihm dankbar, in mehr als einer Hinsicht.
»Ich habe heute Morgen einen Durchsuchungsbefehl für Wilbur Durands Haus und Studio beantragt. Ich brauche diese Bänder, um in dem Fall weiterzukommen. Ich sabbere schon fast bei dem Gedanken, in seinen Sachen zu wühlen; er muss doch irgendwo eine Wäscheschublade haben …«
»Eine was?«, fragte Erkinnen.
»’tschuldigung«, sagte ich. »Das ist der Platz, wo Mädchen ihre geheimsten Sachen aufbewahren. Für meinen Ex war es die oberste Schublade in seinem Schreibtisch.«
»Ah ja. Für mich ist das die Werkzeugkiste. Aber ich gehe total auf, wenn jemand da drin rumwühlt. Was für einen Job Sie haben, in den intimsten Dingen der Leute rumschnüffeln zu dürfen.«
»Sie schnüffeln in den Hirnen der Leute rum.«
»Stimmt«, gab er zu.
»Ich schwöre Ihnen, manchmal glaube ich, wir sind genauso krank wie die Typen, hinter denen wir her sind.«
»Ach, das glaube ich nicht. Einige von denen sind mehr als krank. Aber das sieht nach einer Beschleunigung aus – Sie scheinen was Neues über ihn erfahren zu haben.«
»Ja. Eine ganze Menge.«
Er hörte aufmerksam zu, als ich ihm von meiner Reise nach South Boston berichtete, von Detective Pete Moskal, der Familie Gallagher, dem merkwürdigen Mangel an Beweisen bei dem Mord an ihrem Sohn und von dem, was Kelly McGrath mir erzählt hatte.
»O Mann«, sagte er, als ich fertig war. »Ich weiß nicht, ob man ein besseres Drehbuch für einen Serienmörder schreiben könnte.«
»Entführer.«
Er wurde ernst. »Sie wissen, es ist durchaus möglich, dass alle diese Jungs tot sind.«
»Keine Leichen, Doc, außer der des Jackson-Jungen, und wir sind alle der Meinung, dass das eher eine Übungsgeschichte war. Der Einzige, der wenigstens juristisch tot ist, ist der Neffe von Jesse Garamond. Und das auch nur, weil der Onkel des Mordes an ihm verurteilt wurde und die Behörden deshalb annehmen, dass die Leiche irgendwo versteckt ist. Aber sie wurde nie gefunden.«
»Ich frage mich, was er mit ihnen macht.«
Doc sagte dies in nachdenklichem Tonfall; seine klinische Distanziertheit war so stark, dass sie mich beinahe wütend machte. Meine Stimme klang auch in meinen Ohren barsch, als ich erwiderte: »Irgendwann in naher Zukunft werden wir das schon rausfinden. Falls wir nicht kaltgestellt werden. Reden Sie weiter über diese Drehbuch-Geschichte.«
»Richtig. Tut mir Leid. Ich meine, es ist einfach das klassische Profil. Fehlende Bindung zur Mutter, schwacher oder abwesender Vater, eine männliche Autoritätsfigur, die sich auf negative, dominante Art einmischt – in Durands Fall zwei: sein Onkel und sein Großvater. Verlust einer wichtigen Bezugsperson – die Haushälterin – in einem kritischen Alter.«
»Vor allem den Onkel würde ich am liebsten erwürgen. Der hat ihm wirklich den Rest gegeben. Ich meine, eine solche Vertrauensbeziehung zu einem Kind zu haben und es dann für Sex zu missbrauchen …«
»Wissen wir sicher, dass er das getan hat?«
»Nein, nicht hundertprozentig. Aber ausgehend von dem, was ich in Boston erfahren habe, gibt es meiner Ansicht nach einen guten
Weitere Kostenlose Bücher