Die Schreckenskammer
nicht mehr sehen. Es gab aber auch Zeiten, da war er zum Verrücktwerden erfolgreich, so sehr, dass ich mir Sorgen machte. In solchen Augenblicken zeigte er sich trotz meines Flehens nicht.
Das Letzte, was ich an diesem Abend von ihm sah, war seine kleine Hand, die hinter einem Baum hervorragte, die Reste des Brotrankens noch in den Fingern. Ich tat so, als würde ich ihn nicht sehen, und wandte mich wieder in die Richtung, in die wir gehen wollten, erleichtert darüber, dass ich ihn sicher bei mir wusste.
Ich spürte seine beständige Gegenwart während unseres kleinen Spiels, bis zu dem Augenblick, als mich plötzlich ein kalter Schauer überlief und ich ohne erkennbaren Grund große Angst bekam. Sogleich drehte ich mich wieder um und schaute nach meinem Jungen, doch ich konnte ihn nirgends sehen. Er hatte nicht nach mir gerufen, deshalb glaubte ich ihn nicht in Gefahr, sondern dachte, er hätte sich vielleicht ein wenig verirrt. Wenn mich eine so unnennbare Angst durchzuckt hatte, hätte sie dann nicht auch ihn packen können, und hätte er nicht darauf reagieren können, indem er sich tiefer im Wald versteckte? Ich rief nach ihm und beruhigte ihn, aber er zeigte sich nicht. Ich ging den Pfad zurück, um ihn zu suchen, und als ich ihn nicht finden konnte, eilte ich weiter. Er tauchte nie wieder auf, und ich habe keinerlei Wissen darüber, was mit ihm passiert sein könnte, nur dass derjenige, der ihn mir nahm, ihn mir seitdem nicht mehr zurückgegeben hat.«
Von dem, was jene sagten, die nach ihr kamen, hörte ich nur wenig. Ihr Sohn war ohne den geringsten Laut der Not und mit ihr in der Nähe in der samtenen Dunkelheit verschwunden, und man hatte seitdem von ihm nichts mehr gesehen oder gehört.
Was gibt es Schlimmeres als das? In einem Augenblick ist alles, wie es sein sollte, aber im nächsten scheint nichts, was man früher als Gottes Wahrheit betrachtet hat, noch Gültigkeit zu haben. Alles ist verloren, alles ist zerstört, nichts bleibt mehr, woran man sich festhalten kann.
War er La Meffraye begegnet, der alten Frau, welche in den Wäldern und auf den Pfaden herumschlich auf der Suche nach kleinen Knaben und die sich als freundlich und lieb und harmlos ausgab? Gott sei mit dir, mein Kind, hatte die alte Hexe vielleicht in der Dunkelheit hinter einem Baum hervor geflüstert. Ich sehe, du hast ein wenig Brot zu essen, aber hier ist ein weicherer Ranken, nicht so hart für deine kleinen Zähne. Ja, streck nur die Hand aus und nimm es, leg deine kleine Hand in meine, und lass dich von mir dorthin führen, wo es unvorstellbare Leckerbissen gibt … O nein, ruf nicht nach deiner Mutter, du darfst sie nicht erschrecken, sie wird böse mit dir sein, wenn du es tust … Ich werde dich zu ihr zurückbringen und ihren Ärger beschwichtigen, so dass du ihren Zorn nicht zu fürchten brauchst …
Kleine Kinder wollen vertrauen, vor allem jenen, die zu ehren man ihnen beigebracht hat.
Das Letzte, was ich an diesem Abend von ihm sah, war seine kleine Hand, die hinter einem Baum hervorragte, die Reste des Brotrankens noch in den Fingern.
Wir blieben in der Kapelle, bis alle, die an diesem Tag vorgeladen worden waren, tatsächlich gesprochen hatten. Den Zeugen wurde gesagt, sie könnten gehen, doch nur wenige erhoben sich, um aufzubrechen, denn es sollte noch weitere Verhandlungspunkte geben. Neugieriges Tuscheln erhob sich, als ein Stapel Pergamente als Beweismittel vorgelegt wurde; ich erkannte in dem schmucken Folianten, der mit einem einzigartigen vergoldeten Lederriemen zusammengehalten wurde, den, welchen ich in Jean de Malestroits Kammer gesehen hatte.
Ich konnte das Böse, das aus ihm triefte, geradezu spüren. Denn seine Seiten enthielten die ersten Aussagen von Henriet und Poitou. Zum Glück wurden sie nicht laut verlesen.
Wir zogen uns für eine Weile zurück, um uns zu erfrischen. Wenn wir etwas später in die Kapelle zurückkehrten, würde Jean de Touscheronde mit ein paar einfachen Erklärungen das kirchliche Gericht in ein weltliches verwandeln. Gilles de Rais würde sich vor Herzog Jean V. verantworten müssen, so wie er sich in diesem selben Raum in Anwesenheit von Jean de Malestroit und Bruder Blouyn vor Gott verantworten musste.
Doch vor Beginn dieser Umwandlung war noch Zeit, so dass Frère Demien und ich in die Küche schlüpfen konnten, wo wir gewiss Suppe und Brot und, wenn die Köchin guter Laune war, irgendeine Süßigkeit vorfinden würden. Auf dem Weg dorthin waren wir gezwungen,
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