Die Schreckenskammer
Sache nichts zu tun und möchte trotzdem ihren Gewinn einheimsen. Mir erscheint das sehr unchristlich von ihm. Andererseits hat er ja viele Männer, die bereit sind, an seiner Stelle christlich zu sein.«
Die Nachrichten wurden jeden Tag auf dem großen Platz von Nantes vor dem Bischofspalast vom selben Ausrufer verkündet. Stets strömte eine große Menge zusammen, um seine düsteren Worte zu hören, und Münzen flogen förmlich in seinen umgedrehten Hut, denn er war ein vorzüglicher Geschichtenerzähler. Die Zuhörer ächzten und stöhnten und schüttelten missbilligend die Fäuste, wenn Entsetzen sich in Wut verwandelte. Und je größer die Menge der Berichte über verschwundene Kinder wurde, desto größer wurde auch die Wut der Bevölkerung auf ihren Herren.
Er berichtete von weiteren Scheußlichkeiten und erzählte neue Geschichten der Einschüchterung durch Gilles de Rais’ Männer: »Vor etwa sechs Monaten berichtete eine Putzmagd, die im Palast arbeitete, sie hätte einen kleinen, blutigen Fußabdruck gesehen. Sie benachrichtigte die Haushälterin, doch als die beiden zurückkehrten, war er bereits beseitigt worden. Die Magd verlor ihre Stellung, weil sie so vorlaut …«
Und Geschichten von tollkühnem Mut: »Es war eine dunkle, mondlose Nacht, als ich auf der Burgmauer von Machecoul auf der Lauer lag. Es erschien mir nur angemessen, dass die Verbrechen dieser Missetäter ans Tageslicht kommen sollten. Falls in dieser Nacht wieder ein Junge verschleppt werden sollte, würde ich nicht zögern, die Männer der umliegenden Dörfer zu benachrichtigen, damit Gilles de Rais den zuständigen Behörden zugeführt werde.
Leider übermannte mich der Schlaf, und es dauerte wohl nicht lange, bis ein Mann von schmächtiger Gestalt mich, mit einem Dolch unter meinem Kinn, weckte. Ich schrie auf, aber er lachte und sagte: ›Schrei, so viel du magst! Keiner wird dich retten. Du bist ein toter Mann.‹
Ich war mir sicher, dass er mich töten wollte, und flehte um mein Leben. Dank Gottes Gnade hatte dieser Kerl wohl Mitleid mit mir und ließ von mir ab, damit ich über die Begegnung nachdenken konnte, doch nun hatte ich nicht mehr den Mut zu bleiben – ich kletterte eilends die Steine der Außenmauer hinab und schlug mich durch bis zur Straße, und obwohl es stockdunkel war, rannte und rannte ich, bis ich weit genug von diesem bösen Ort entfernt war, um anhalten und Atem schöpfen zu können. Als ich am nächsten Tag zu meinem Haus zurückkehrte, begegnete mir Gilles de Rais selbst, der in die Richtung von Boin ritt. Auf seinem Pferd erschien er mir wie ein Riese, vor allem angesichts dessen, was ich in der Nacht zuvor gegen ihn unternommen hatte! Er starrte mit großer Böswilligkeit auf mich herab und legte die Hand auf das Heft seines Schwerts. Ich schloss die Augen und wartete auf das Schaben von Metall, doch er lachte nur höhnisch auf. Er ritt davon, aber seine Begleiter blieben zurück und umringten mich. Keiner sprach ein Wort, aber ihre Mienen sagten: Wir wissen, was du im Schilde führst, und du solltest es besser sein lassen! «
Das war die letzte der Schauergeschichten, die ich an diesem Tag hörte. Im Gericht selbst gab es eine Unterbrechung, die mir trotz meines unvernünftigen Drangs, alles mitbekommen zu wollen, willkommen war. Während wir warteten, ließ ich, nur um der Ablenkung willen, die kühlen, glatten Perlen meines Rosenkranzes durch die Finger gleiten, ohne die entsprechenden Gebete aufzusagen, während Jean de Malestroit sich mit Bruder Blouyn und De Touscheronde besprach. Die drei hatten die Köpfe zusammengesteckt und redeten so leise, dass nicht einmal die Schreiber, die dicht bei ihnen saßen, sie hören konnten.
Es machte nichts, denn diesmal schrieb Jean de Malestroit. Mit Zustimmung seiner Kollegen verfasste er eine kurze Erklärung, die er einem der Schreiber mit einer geflüsterten Anweisung übergab. Der Mann fing sogleich an, in seinen Pergamenten zu suchen, stand dann auf und berichtete über die wichtigsten Zeugenaussagen, indem er zuerst angab, wer sie gemacht hatte, und sie dann kurz zusammenfasste.
Als er damit fertig war, drehte der Schreiber sich zu Seiner Eminenz um, der ihm mit einem Nicken die Zustimmung zur Verkündung des folgenden Schlusssatzes gab: »Nachdem die Beschwerden vorgebracht wurden vor den Herren Jean, Verehrter Vater in Gott, Bischof von Nantes, und Bruder Jean Blouyn, Vize-Inquisitor, verfügen besagte Herren Bischof und Vikar, dadurch davon in
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