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Die Schreckenskammer

Titel: Die Schreckenskammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Benson
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Hause, ich hinterließ wieder eine Karte. Auf der sechsten wollte ich eben Bitte rufen Sie mich an auf eine Karte schreiben, als die Tür doch noch von einer sehr betagten Dame geöffnet wurde, deren süßliches Parfüm mich schlagartig in die Sechziger zurückversetzte. Sie war adrett gekleidet, und ihre bläulich schimmernden Haare sahen aus wie frisch frisiert. Bereits um diese Uhrzeit trug sie Perlenkette und Lippenstift – mehr als ich je trage. Das Rot verlief wie kleine Bächlein in den Falten an ihrer Oberlippe.
    »Ach, kommen Sie nur rein«, sagte sie, als sie meine Marke sah. Ich hatte ihr den Grund meines Besuches noch gar nicht genannt, aber das schien für sie unwichtig zu sein. Ein Besucher war ein Besucher, und ich war Polizistin und deshalb ungefährlich. Alte Leute und Kinder denken so.
    »Darf ich Ihnen Tee oder Kaffee anbieten, Officer?«
    »Oh, nein, vielen Dank, Ma’am.« Ich hatte sie auch noch nicht nach ihrem Namen gefragt. Sie folgte mir mit dem Blick, als ich langsam zu dem großen Fenster ging. Die Straße, die ich sehen wollte, war gut sichtbar. Auf einem kleinen Tisch neben einem üppigen Polstersessel lag ein Fernglas, wie man es zur Vogelbeobachtung benutzen mochte.
    »Sie haben eine schöne Aussicht hier«, sagte ich.
    »Ja, das stimmt. Das ist der Grund, warum ich mich in diesem Gebäude eingemietet habe.«
    Ellen Leeds’ Gründe waren ganz andere gewesen.
    »Ich war so ziemlich die erste Mieterin hier«, fuhr sie fort. »Das war, warten Sie mal, vor zwanzig Jahren. Jetzt warten sie darauf, dass ich sterbe, damit sie die Wohnung an einen Jüngeren mit viel mehr Geld weiter vermieten können.«
    Ich musste lächeln. »Kann ich mir denken«, sagte ich. Ich nahm das Fernglas in die Hand. »Beobachten Sie Vögel?«
    »Ein bisschen, aber nicht sehr ernsthaft. Ich hatte mal eine Bekanntschaft, einen Herren – der ist jetzt auch schon seit zehn Jahren tot –, der es sehr gerne tat. Was Sie da in der Hand halten, ist sein Glas.«
    Ich stellte es taktvoll auf den Tisch zurück.
    »Inzwischen schaue ich meistens nur, was draußen in der Welt vor sich geht.«
    Ach bitte, bitte, bitte, flehte ich stumm. »Mrs …. ich meine, Ma’am …«
    »Mrs. Paulsen.«
    Ich schrieb den Namen in mein Notizbuch. »Ich frage mich, ob Sie vielleicht gestern Morgen um halb acht oder ein bisschen später zum Fenster hinausgeschaut haben. Ein kleiner Junge, der in diesem Gebäude wohnt, ist verschwunden, und er wurde gestern Morgen auf dem Weg zur Schule zum letzten Mal gesehen.«
    Sie hob kaum merklich die Augenbrauen. »Ach, deswegen also die ganze Aufregung.«
    »Ja.«
    »Da muss ich einen Augenblick nachdenken.« Sie setzte sich bedächtig in ihren Sessel. »Mal sehen, gestern Morgen … Ich stand zur gewohnten Zeit auf, Viertel nach sechs – und duschte. Dann trank ich meinen Kaffee und holte die Zeitung herein – ich habe da einen kleinen Jungen, der sie mir auf die Schwelle legt, wissen Sie – und las eine Weile. Ich weiß noch, dass ich um sieben den Fernseher einschaltete, um mir Today anzusehen – ich mag diesen Al Roker sehr gern …«
    So beschrieb sie weiter die Details ihrer morgendlichen Routine, und für mich klang das sehr entspannt, fast wie im Himmel.
    »Wissen Sie, ich war zu der Zeit wirklich am Fenster. Ich weiß noch, dass ich Kinder auf dem Schulweg gesehen habe. Da ist dieses eine Mädchen, das immer so hübsch aussieht, ihre Mutter zieht sie sehr adrett an, und sie hüpft immer auf ihrem Weg – erinnert mich daran, wie ich selber zur Schule gegangen bin. Wir trugen damals immer Kleider, wissen Sie, nicht wie heute, wo sie ja fast gar nichts mehr anhaben …«
    »Sie sagten, Sie hätten Today laufen gehabt, erinnern Sie sich noch, worüber in der Sendung gesprochen oder was getan wurde, als Sie hinausschauten und die Kinder sahen?«
    »Ja, das weiß ich noch. Diese Dame mit den Stoffen und den Sachen war dran und machte irgendeine Dekoration.«
    Martha Stewart. Ein kurzer Anruf beim Lokalsender, um mir die genaue Sendezeit geben zu lassen. Ich zog Nathan Leeds’ Foto aus meinem Fallordner und gab es ihr. »Haben Sie zufällig diesen Jungen auf seinem Schulweg gesehen?«
    Sie betrachtete das Foto einen Augenblick lang. »Ja, den habe ich gesehen. Aber er ging die Straße nicht ganz hinunter, wie er es sonst tut.«
    Ach bitte, bitte. Mein Herz klopfte ein wenig schneller. »Wie meinen Sie das, Mrs. Paulsen?«
    »Nun ja, ungefähr auf halbem Weg, vor diesem kleinen weißen Haus,

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