Die Schreckenskammer
wusste. Er war von Natur aus kein gefühlloser oder gleichgültiger Mann.
»Eminenz, es ist doch offensichtlich«, sagte ich ruhig, »dass man in jedem einzelnen dieser Verschwindensfälle ermitteln sollte, um herauszufinden, ob es einen roten Faden gibt. Ihr würdet gut daran tun, jemanden mit wachem Verstand zu wählen, bei dem man auch darauf vertrauen kann, dass er sich dieser Arbeit mit Begeisterung widmet.«
»Nun ja, im Augenblick scheint mir, als hätte ich derart kluge und begeisterte Köpfe für eine solche Aufgabe nicht gerade im Übermaß zur Verfügung.«
»Nötig ist nur eine Person.« Ich hielt kurz inne und drängte dann weiter: »Und da ich diejenige bin, die diese Ermittlung überhaupt erst angestoßen hat, scheint es doch nur angemessen, dass ich diejenige sein sollte, die sie auch zum Abschluss bringt.«
»Guillemette, Ihr seid eine Frau. Darüber hinaus seid Ihr Äbtissin. Angesichts Eures Ranges wäre das eine höchst unschickliche Tätigkeit.«
»Vielleicht, aber niemand sonst könnte die Leidenschaft dafür aufbringen, die ich besitze.«
»Eure Leidenschaft könnte Euren Geist vernebeln. Ein Unbefangenerer, vielleicht …«
Wie empörend! Seine Eminenz gibt, Seine Eminenz nimmt. »Ich glaube, dass meine tiefe Besorgnis mir in dieser Angelegenheit ungewöhnliche geistige Klarheit vermitteln wird – ich besitze die Fähigkeit, derartige Situationen zu verstehen, welche die Vorzüge ignoranter Unbefangenheit bei weitem überwiegt.«
Da es ihm nicht gelang, mich mit Vernunft von der Sache abzubringen, erinnerte er mich an meine Pflichten. »Ihr könnt für eine solche Arbeit nicht von Euren Pflichten entbunden werden.«
»Ach, Unsinn«, sagte ich. »Überall in diesem Kloster findet man untätige Hände, die sich nach Beschäftigung förmlich sehnen.«
»Nun gut«, sagte er. »Ich kann Euch nicht entbehren.«
»Dann werde ich meine Nachforschungen so einrichten, dass Ihr mich nicht zu entbehren braucht. «
Ein Mundwinkel zuckte leicht nach oben. »Alsdann«, sagte er, »wenn Ihr Eure Ermittlungen auf tieferer Ebene fortführen wollt, so habt Ihr mein Einverständnis.«
Ich wollte seinen Segen, doch reichte auch sein Einverständnis.
»Wir werden Schwester Elene Eure üblichen Pflichten übertragen«, sagte er. »Sie ist sehr kundig und begierig auf eine Beförderung. Folglich wird sie Euch recht gut ersetzen.«
Wie immer musste er mir noch einen letzten Hieb versetzen. Jean de Malestroit sah meine bekümmerte Miene und beeilte sich mit einer Klarstellung: »Natürlich kann Sie nie wirklich Euren Platz einnehmen. Seid versichert, dieser Wechsel gilt nur für die Zeit, bis Ihr die Arbeit vor Euch abgeschlossen habt. Wenn Ihr von dieser Eurer Mission zurück seid, werden wir sehr froh sein, Euch wieder an der alten Stelle zu haben.«
»Dann werde ich, mit Eurer Erlaubnis, sogleich beginnen.«
»Ach, Guillemette, seid nicht so überstürzt. Es wäre besser, Ihr würdet bis nach dem Osterfest damit warten«, sagte er. »Denn dazu brauche ich Euch, wie immer.«
Er brauchte mich, damit ich während der Vorbereitungen an der Wand stand, eine Aufgabe, für die ich wirklich nicht ersetzt werden konnte. »Selbstverständlich, Eminenz. Das ist nur vernünftig.«
Ich fand es alles andere als vernünftig.
So wurde mir die heiligste Woche unseres Jahres zur längsten. Ich wollte unbedingt weitermachen, konnte es aber nicht – Frömmigkeit musste geweckt werden, eine ziemlich schwierige Aufgabe in einer so großen Gemeinde wie der unseren, wo vielen Pfarrkindern eine anständige Mahlzeit mehr nützen würde als noch ein Teller geistiger Nahrung. Nantes hat, trotz seines Reichtums und seiner Blüte, viele Arme, die alle niedergedrückt wurden von den beständigen Kriegen und den darauf folgenden Steuererhebungen auf ihr mageres Vermögen.
Karfreitag kam und ging; seine schreckliche Trauer überspülte uns wie eine Woge und ließ dann, dank des glorreichen Einflusses der Wiederauferstehung, schnell nach. Ostern lag früh in diesem Jahr, vor dem Ende des mars, die Luft war deshalb frühlingskühl, als wir in einer Prozession zur Kirche gingen. Unterwegs säumten lange Schlangen von Gläubigen die schlammigen Straßen, einige mit nichts weiter als Lumpen an den Füßen, alle jedoch in der Hoffnung, den Bischof und sein Gefolge in all der Pracht und Würde einer heiligen Prozession erblicken zu dürfen. Trugen einige der Schaulustigen wirklich Schuhwerk, so wurde das unweigerlich nass und würde
Weitere Kostenlose Bücher