Die Schreckenskammer
Küchentisch, ich mit eingeschlossen. Ich musste wohl eingenickt sein, denn als ich wieder aufwachte, stand Julia neben mir und versuchte, den Donnolly-Bericht zu lesen, über dem ich saß. Sie legte den Finger auf ein langes Wort und schaute mich mit unschuldiger Neugier an.
Ich las es ihr vor, Silbe für Silbe, wie man es mir beigebracht hatte. »Haupt-ver-däch-ti-ger«, sagte ich.
Sie wiederholte es langsam. »Sind das die Bösen?«
Es geht doch nichts über Kontext.
Als ich am nächsten Morgen nach zehn Stunden Schlaf ins Büro kam, lag auf meinem Schreibtisch ein beachtlicher Stapel Faxe. Auf dem obersten klebte ein gelber Zettel von Fred. Es stand nur Hmmm darauf.
Alle wurden offiziell noch als aktive Fälle geführt, in Wirklichkeit aber ruhten sie, obwohl das keiner offiziell zugeben würde. Einer war mehr als drei Jahre alt – nach so langer Zeit ist ein Fall dieser Art praktisch unlösbar, außer von irgendwoher tauchen überraschende neue Hinweise auf. Zeugen ziehen weg, ihre Erinnerungen an das Verbrechen werden schwächer. Keiner dieser Verschwindensfälle war besonders entsetzlich, zumindest nicht an der Oberfläche. Ich sah das Auto anhalten und den jungen einsteigen, und das war das letzte Mal, dass ich ihn (oder den fraglichen Vertrauten) an diesem Tag sah.
Sackgasse um Sackgasse, bis auf eine Überraschung; der Fall war »gelöst« worden. Ein zwölfjähriger Junge war entführt worden, angeblich vom Freund seiner Mutter, einem gewissen Jesse Garamond, der schon einmal wegen Kindsmissbrauchs verurteilt worden war, wobei die Details dieses früheren Falls in dem Überblick nicht enthalten waren. Die Leiche des verschwundenen Jungen wurde nie gefunden, aber Garamond wurde dennoch des Verbrechens angeklagt und verurteilt, und zwar ausschließlich aufgrund der Aussage eines Augenzeugen, eines Priesters, der die beiden zusammen gesehen haben wollte, eine Stunde, bevor die Mutter bei der Polizei anrief und ihn »vermisst« meldete, weil er nicht zum vereinbarten Zeitpunkt nach Hause gekommen war.
Das Verbrechen war eine Verletzung von Garamonds Bewährungsauflagen gewesen, er kam also sofort wieder ins Gefängnis, um den Rest seiner Erststrafe abzusitzen. Die neue Strafe wurde angehängt; zur Zeit seiner Entlassung würde er wahrscheinlich keinen einzigen Zahn mehr haben.
Der Fall faszinierte mich aus zwei Gründen: erstens, weil es ungewöhnlich ist, dass man ohne Leiche eine Verurteilung bekommt, und zweitens, weil es Spence Frazee war, der den Kerl verhört hatte.
Ich war leicht überrascht, Spence an seinem Schreibtisch zu finden, denn er sitzt nicht gern dort. Es ist kein See, und Angelruten sind nicht gestattet. Wenn er gezwungen ist, in seinem Verschlag zu arbeiten, wird er nervös und launisch, und keiner hält es lange in seiner Nähe aus. Ansonsten ist er ein wirklich netter Kerl. Ich denke, er würde lieber immer noch Streife fahren, wenn der Unterschied in der Bezahlung nicht so krass wäre. Wir alle verdienen hinter unseren Schreibtischen viel mehr als damals hinter dem Steuer eines Streifenwagens, und wir kommen bei weitem nicht in so engen Kontakt mit den Mistkerlen dieser Welt wie in unserer Zeit auf der Straße. Irgendwann wird das wichtig, vor allem für diejenigen von uns, die Kinder haben. Ich hatte oft das Gefühl, ich müsste meine Uniform und mich selbst entlausen, bevor ich nach Hause ging, um nichts mitzuschleppen.
Ich legte ihm das Fax auf den Tisch.
»Was ist das?«, fragte er.
»Der Garamond-Fall.«
»Ach«, sagte er nur.
»Ich hatte nach offenen Fällen gefragt.«
»Na ja …«
Spence hatte Jesse Garamond sehr professionell bearbeitet. Er hatte sich sein Vertrauen erarbeitet, eine Beziehung aufgebaut, ein Gefühl der Verantwortlichkeit erzeugt, hatte all die Tricks angewendet, die man uns beigebracht hatte, um einen Verdächtigen dazu zu bringen, offen zu sprechen. Als er mit Garamond fertig war, meinte der, er würde gern gestehen, würde nichts lieber tun, als Spence zu sagen, dass er den Sohn seiner Freundin entführt und ermordet habe.
»Das Problem ist nur«, sagte Garamond anschließend zu ihm, »ich hab es nicht getan. He, wenn ich Ihnen wahrheitsgemäß sagen könnte, dass ich es getan habe, dann würde ich es sagen. Aber ich hab’s nicht getan.«
Natürlich sagt das jeder. Aber Garamond ging noch einen Schritt weiter und verstärkte seine Glaubwürdigkeit mit dem Eingeständnis: »Diese erste Geschichte gebe ich zu. Die, für die ich
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