Die Schreckenskammer
»Es gibt wichtigere Angelegenheiten, deren Bewältigung mir übertragen wurde, aber ich verspreche Euch eins: Ich werde mich bald darum kümmern.«
Die Gruppe murmelte und nickte dankbar. Dann sagte La Roche: »Euer Eminenz, gestattet mir, einen Augenblick mit den Dörflern zu reden, und dann spreche ich wieder mit Euch.«
»Wie Ihr wollt, Bruder.«
Einige Augenblicke lang besprachen sie sich leise untereinander. Schließlich löste der Priester sich aus der Gruppe und sagte: »Wir haben einen gewissen Verdacht, wer der Schuldige bei all diesen Verschwindensfällen sein könnte.«
»Ich bin mir sicher, dass Ihr den habt«, lautete Jean de Malestroits Antwort. La Roche war klug genug, den Mund zu halten. Nach einer Weile fuhr der Bischof fort: »Aber ich werde mit Hilfe einer gerechten Ermittlung zu meinem eigenen Urteil kommen. Zur rechten Zeit, und falls es zu einem Prozess kommt, werdet Ihr alle erfahren, was ich weiß.«
Das schien ihnen zu genügen. Nach vielen Worten und Gesten des Dankes verabschiedeten sie sich und verschwanden wieder im Wald.
Auf dem langen, nur vom Schein unserer Fackeln erhellten Rückweg nach Nantes dachte ich über die Ereignisse dieses langen und erschöpfenden Tages nach. Während wir durch das Waldgebiet kurz vor der Stadt zogen, hörte ich Jean de Malestroits Stimme. Er ritt direkt neben mir, aber es klang, als würde er aus weiter Entfernung rufen.
»Nun gibt es endlich einen Grund, gegen Gilles de Rais tätig zu werden.«
Ich ließ diese Erklärung eine ganze Weile unbeantwortet. Es war die bittere Wahrheit, dass unsere verlorenen Kinder Herzog Jean weniger bedeuteten als der Anspruch auf Saint-Etienne. Gilles de Rais musste den Irrsinn seines Versuchs, sich diesen Besitz zurückzuholen, erkannt haben – wie lange meinte er wohl, würde es dauern, bis Herzog Jean eine größere, besser ausgestattete Truppe mit ergebenen Männern ausschickte, um Milord in den Staub von Saint-Etienne zu stampfen?
Milords eigentliches Verbrechen bestand darin, dass er sich als Herzog Jean ebenbürtig betrachtete. Er hatte das bei seinem Grandpère gesehen, der mehr Reichtum, mehr Ländereien, mehr Gefolgsleute, mehr Gerissenheit und auf jeden Fall mehr Wagemut als der Herzog besessen hatte. Es war ein lächerlicher Fehler, dass Milord annahm, eine solche Ebenbürtigkeit würde zwangsläufig auf ihn übergehen. Noch verwunderlicher waren die verrückten Beschuldigungen, die Gilles angeblich ausgestoßen hatte, als er angriff. »Ihr diebischen Halunken«, hatte er Jean le Ferron angeschrien. »Ihr habt meine Männer geschlagen und ihnen Geld abgepresst. Kommt vor die Kirche, oder ich schlage Euch tot.«
Kein Mensch glaubte auch nur einen Augenblick, dass Jean oder Geoffrey le Ferron irgendjemandem irgendetwas abgepresst hatten. Und keiner von uns konnte ergründen, wie ein Mann, der zu Ostern so viel Demut und Frömmigkeit gezeigt hatte, so plötzlich und auf eine so irrsinnige Art die Herrschaft über die eigene Seele verlieren konnte, wie Gilles de Rais es vor Saint-Etienne gezeigt hatte. Man hatte gehört, sowohl bei seiner kurzen Buße an Ostern wie auch bei späteren Gelegenheiten, dass er den tiefen Wunsch hege, eine Pilgerfahrt ins Heilige Land zu unternehmen, um sein übles Leben hinter sich zu lassen und um Verzeihung zu bitten.
Doch nur sein Beichtvater und vielleicht Jean de Malestroit kannten die Schwere der Sünden, die Absolution erforderten. Und beide schwiegen darüber.
Jean de Malestroit wusste schon jetzt genug, um in Herzog Jeans Namen vernichtend gegen Milord Gilles vorzugehen. Doch wäre er nicht so töricht gewesen, eine Kirche zu erstürmen, hätte es gut sein können, dass Gilles de Rais nie wegen irgendetwas belangt worden wäre, auch nicht nach den Klagen so vieler Eltern.
Ihr seht, Milord war immer noch zu sehr einer von uns.
Aber er würde es nicht mehr lange bleiben.
14
In meiner lutherischen Familie in Minnesota waren wir am Sonntagvormittag ungefähr acht Stunden in der Kirche (zumindest kam es mir so vor) und saßen dann für den Rest des Tages bei einem großen, irgendwie altmodischen, aber gemütlichen Essen zusammen. Ich selbst lebe zwar nicht mehr so, konnte mich aber trotzdem nicht überwinden, eine der Familien in meinen sieben dokumentierten Fällen anzurufen, einfach weil die winzige Chance bestand, dass sie es vielleicht noch taten. So brachte ich einen ruhigen Sonntag damit zu, die Fallakten zu lesen und noch einmal zu lesen und zu versuchen,
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