Die Schreckenskammer
einen Überblick zu formulieren.
Als Schnüffler kommt man sich oft komisch vor. Nur drei dieser Familien wussten, dass eine völlig Fremde sich in die Details ihres Lebens vertiefte und dass diese Fremde, auch wenn sie sich bemühte, professionelle Distanz zu wahren, sich doch aus dem Gelesenen eine Meinung bilden würde.
Ausgehend von meiner Ausbildung und meiner beruflichen Erfahrung, ist es meine Meinung, Euer Ehren, dass dieser Junge noch am Leben sein könnte, wenn die Mutter besser auf ihn aufgepasst hätte.
Oder: Nach Betrachtung der Beweislage komme ich zu dem Schluss, dass der Onkel des Jungen ein Perverser ist, auch wenn er ein Alibi hat.
Manchmal kann man nichts dagegen tun. Ich will nett sein und den Zweifel zu Gunsten der Leute sprechen lassen, aber man sieht eben so viel – zu viel.
Eine Unmenge von Fragen würden sich ergeben, darunter die wichtigste: War das vermisste Kind in der letzten Zeit vor seinem Verschwinden im Museum der La-Brea-Teergruben gewesen? Wenn ja, mit wem?
Und wenn es so auffällige Ähnlichkeiten zwischen den Opfern gab, gab es dann nicht vielleicht auch Parallelen zwischen den Vertrauten? Bis dahin war die einzige sichtbare Gemeinsamkeit zwischen den ursprünglichen Verdächtigen die, dass sie alle mit dem Opfer in einer engen Vertrauensbeziehung gestanden hatten, sowie die Tatsache, dass sie alle später durch Alibis entlastet wurden – einschließlich Garamond, auch wenn der das seine nicht gerichtsverwertbar machen wollte.
Nicht gerade eine bahnbrechende Beobachtung.
Nur wenige der Fälle waren so weit gediehen, dass es Fotos der Vertrauten in den Akten gab, denn keiner war je polizeilich registriert worden, bis auf Garamond, der mich allmählich wütend machte. Im Gefängnis zu verrotten, nur um seinen Bruder zu schützen – das war wie aus einer dieser griechischen Tragödien, die wir in der High School lesen mussten. Von den wenigen Fotos, die ich hatte, machte mich eins sehr traurig. Der angebliche Täter – ebenfalls ein Onkel – hatte seinen Arm um das Opfer gelegt, sie standen vor einem Baseball-Fängernetz, und der Junge war im Trikot und ziemlich verdreckt, als hätte er den ganzen Nachmittag Fangen geübt. Ein liebender Amateur musste das Foto aufgenommen haben, denn es gab viel zu viel Hintergrund, und das ganze Ding war leicht schief. Aber die Zuneigung war so offensichtlich; der Junge war glücklich, der Onkel war glücklich, der Fotograf hatte das alles sehr ungestellt eingefangen. Ich sah mir den Kerl auf dem Foto an und mir kam nur ein Gedanke: unmöglich. Ich hatte keine Grundlage für diese Einschätzung, aber auch nichts, durch das ich sie hätte widerlegen können. So viel zu professioneller Distanziertheit.
Ich glaube, ich war noch nie so glücklich, meine Kinder zu sehen, wie an diesem Nachmittag, als sie zu mir zurückkamen. Es machte einfach alles wieder normal. Sie hatten sich offensichtlich sehr gut amüsiert; Kevin sah völlig geschafft aus, als er sie ablieferte, und das war immer ein gutes Zeichen.
Ob Sie es glauben oder nicht, eine meiner Lieblingsbeschäftigungen mit ihnen ist das Wäschewaschen, weil es eine ziemliche Gemeinschaftsleistung bedeutet. In dem Chaos, das er sein Zimmer nennt, fand Evan einen Korb, und wir setzten uns im Wohnzimmer um einen Berg aus Socken, Unterwäsche, Sportsachen und T-Shirts und versuchten, alles zu sortieren. Julia zog die weißen Sachen heraus, Frannie die hellen bunten und Evan die dunklen – er weigert sich, die Weißen zu machen, weil Frannies kleine BHs darunter sind und er die nicht anrührt.
»Du bist ein solcher Feigling«, neckte sie ihn. »Julia muss deine blöden Unterhosen anfassen, und du hast Angst vor einem kleinen BH.«
»Ja, klein stimmt, Miss Flachbrüstig«, spottete er zurück.
Lautes Geschrei folgte. Plötzlich flog Wäsche durchs ganze Zimmer. Um bei dem Spaß nicht abseits zu stehen, schnappte ich mir ein Handtuch und schlug damit nach meinem Sohn, der mit seiner brechenden Stimme auflachte und geschickt auswich.
»Gefühlloser Trampel«, rief ich und konnte mein eigenes Lachen kaum unterdrücken. »Hoff lieber, dass sie nicht größer wird als du.«
»Ja«, ergänzte Frannie. Sie spannte den Bizeps an wie Arnold. »Du glaubst, in dem Studio lerne ich Tanzen, du Trottel. Es ist Karate. «
Sie schlug ungeschickt nach ihm, und Evan packte sie am Handgelenk. Kreischend vor Freude, beteiligte Julia sich an dem Handgemenge, indem sie Evan auf den Rücken sprang und
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