Die Schreckenskammer
schon ein paar Tage später wieder anrief und berichtete, dass vier, vielleicht fünf Jungen ihre gewohnten Schlupfwinkel verlassen hätten, ohne vorher Bescheid zu sagen. Diese Jungs seien einfach von einem Tag auf den anderen nicht mehr aufgetaucht, und alle innerhalb des letzten Jahres.
Die Angaben zu den Zeitpunkten ihres Verschwindens waren erwartungsgemäß ziemlich ungenau. Zu der Zeit, als wir dieses schwere Gewitter hatten, lautete eine der Aussagen, so um die Ferien herum, vielleicht an Thanksgiving oder Weihnachten, eine andere. Der Gedanke, dass ein Junge etwa im Alter meines Sohnes sich so einfach in Luft auflösen konnte, ohne dass jemand Notiz davon nahm, machte mich sehr traurig.
Mein Täter hatte die Gegend abgefahren. Vielleicht hat jemand was gesehen, sagte ich dem jungen Beamten. Vielleicht hat eins der anderen Kinder …
Vergessen Sie es, erwiderte er.
Es war alles so demoralisierend. Wohin ich mich auch wandte, ich fand nur Entmutigung. Lediglich Errol Erkinnen schien Engagement für diese Fälle aufzubringen, aber er konnte keine Beamten von den nach dem 11. September ins Kraut geschossenen Überwachungseinheiten abziehen und sie losschicken, damit sie die Gegenden abgrasten, wo die Entführungen stattgefunden hatten, mit Freunden der verschwundenen Jungs redeten, eben all die Laufarbeit erledigten, die getan werden musste. Escobar und Frazee trieften in unseren alltäglichen Gesprächen förmlich vor Aufmunterung, aber ihre Arbeitsbelastung und ihre Zeitpläne trieben sie schier in den Wahnsinn. Ich brachte es nicht übers Herz, ihre großzügigen Hilfsangebote anzunehmen. Wenn mein Leben ein Film wäre, dann gäbe es jetzt eine überraschende Wendung, vielleicht ein unverhofftes Beweisstück oder einen krassen Fehler von Seiten des Entführers. Es würde hundertzwanzig Minuten, also zwei Stunden dauern, das Verbrechen zu lösen, denn das ist ungefähr das Zeitlimit für die Zuschauer, die nach einer solchen Zeitspanne notorisch nervös werden. Mir wurde allmählich klar, dass ich die Tür zu der Welt dieses modernen Blaubarts wohl am ehesten fand, wenn ich verstand, wie er seine Opfer aussuchte. Ich zeichnete eins meiner berühmten Diagramme, investierte viel Zeit in die Beschäftigung mit ethnischer Zugehörigkeit, sozioökonomischem Status, medizinischer Versorgung und all den anderen leicht eruierbaren Merkmalen. Zwei der Jungs gingen zum selben Kinderarzt, na und. Sie wohnten in derselben Gegend. Drei der Familien waren Vegetarier. Auch das war interessant und bemerkenswert, aber es bedeutete nur, dass die Mütter vielleicht auf denselben Märkten einkauften oder dieselben Kochbücher besaßen. Ich suchte nach einer Art Tauschbörsen-Verbindung. Hatten sie alle an einem Tag denselben Flohmarkt besucht, und hatte er sich alle Autonummern notiert?
Waren sie alle an einem Tag, an dem auch er dort war, in den La-Brea-Teergruben gewesen?
Ich würde alle Familien noch einmal befragen müssen, mit einer neuen Zielrichtung. Es würde eine unangenehme Aufgabe werden – viele dieser Familien hatten ihren Sohn schon vor langer Zeit verloren, und vielleicht, nur vielleicht, fingen ihre Wunden langsam an zu heilen.
Aber ich war angenehm überrascht. Im Grunde genommen war Mrs. McKenzie die Einzige, die mir Schwierigkeiten machte. Die Witwe des Selbstmörders zeigte sich still, aber sehr kooperativ. Die meisten anderen waren sehr hilfsbereit und beantworteten meine Fragen umfassend.
Zuerst hielt ich es für einen glücklichen Zufall, dass alle Familien noch in der Gegend wohnten, doch dann wurde mir klar, dass kaum eine Familie ihr Heim verlassen würde, solange es noch Hoffnung gab, dass ihr Kind zurückkehren könnte. Und noch etwas zum Leben im Wartestand: Nur zwei der Familien hatten das Zimmer des vermissten Kindes umgestaltet. Ich ging noch einmal durch all diese Zimmer und betrachtete eine Schwindel erregende Auswahl von Wandgestaltungen, die alle die Hoffnungen und Träume des dekorierenden Elternteils für das Kind reflektierten. Die Schottenkaro-Tapete in einem der Zimmer bereitete mir ein wenig Kopfzerbrechen. Der Junge verbrachte seine Freizeit umgeben von unendlich vielen rechtwinklig gekreuzten Linien in Rot und Grün, und das war auch das Letzte, was er sah, bevor er abends einschlief. Wovon würde er träumen?
In einem dieser Zimmer befand sich an einer Wand eine vom Boden bis zur Decke reichende Schiefertafel mit einer Schale voller Buntkreiden am Sockel. Das letzte
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