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Die Schrift an der Wand

Die Schrift an der Wand

Titel: Die Schrift an der Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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konnte mich im nächsten Hauseingang niederlassen
und auf einen Schachzug des Schicksals warten, der hoffentlich
einträfe, bevor ich alt und grau war.
    Ich sah mich um. Über der Stadt hing ein hoher, grau-weißer
Himmel. Es war gerade erst halb fünf, und es würde erst in einer
Stunde dunkel werden. An einer Ecke anderthalb Häuserblocks
weiter schien ein verlockendes Licht aus einer Konditorei. Ich
entschied mich dafür, dem Schicksal eine halbe Stunde Zeit zu
geben.
    In der Konditorei bestellte ich eine Tasse Schokolade mit
Sahne und eine Zimtschnecke und setzte mich damit an einen
Tisch am Fenster mit Blick auf das Jimmy.
    Nicht lange nachdem ich mich gesetzt hatte, kam Ronny
heraus, drehte sich zur Tür und zeigte irgend jemandem den
Stinkefinger, dann sah er sich um und zog schnell ab um die
nächste Ecke.
    Ansonsten passierte nicht viel mehr, als daß der Verkehr in
Richtung Stadt zunahm. Die Rücklichter der vorbeifahrenden
Autos zeichneten rote Streifen an der beschlagenen Fensterscheibe entlang, und am Straßenrand wurden plötzlich
gebührenpflichtige Parkplätze frei.
    Als die geplante halbe Stunde verstrichen war, ohne daß das
Schicksal zum Zuge gekommen war, stellte ich mein Geschirr
zusammen und trug es zum Tresen, mit einem schiefen, kleinen
Lächeln für die üppige Dame dahinter, als hätten wir an diesem
Donnerstagnachmittag einen heimlichen Augenblick geteilt. Das
Lächeln, das ich zurückbekam, deutete an, daß es genauso
gewesen war; ich hatte es nur nicht mitgekriegt.
    Die Luft draußen war kalt und rauh, und ich steckte die Hände
tief in die Manteltaschen. Ich hatte gerade beschlossen, einen
kleinen Schlenker am Jimmy vorbei zu machen, bevor ich für
heute aufgab, als die Tür plötzlich aufging.
    Zwei der jungen Mädchen kamen heraus, die Köpfe eng
zusammengesteckt und leicht gekrümmt gegen den scharfen
Wind, der sich wie ein unwillkommener Gast durch die
schmalste Stelle der Straße zwängte. Keine von ihnen war
Astrid Nikolaisen.
    Beide trugen enge Jeans und etwas zu große Regenjacken. Die
eine hatte ein breites, rotes Stirnband im dunklen Haar, die
andere trug einen schwarzen Samthut mit einer breiten, vorn
hochgeschlagenen Krempe. Direkt vor dem Jimmy blieben sie
im gelbweißen Schein einer schwankenden Straßenlaterne
stehen. Das Mädchen mit dem Hut hielt einen kleinen Zettel in
der Hand und zeigte, was darauf geschrieben stand. Ihre
Freundin sah ihr mit halbgeöffnetem Mund ins Gesicht, als
könnte sie ihr Erschrecken nicht unterdrücken – wenn es nicht
ein Ausdruck gespannter Erwartung war.
    Das Mädchen mit dem Hut sagte etwas, und das andere nickte.
Die mit dem roten Stirnband schob ihren Arm unter den der
Freundin, und als der Verkehr eine Denkpause einlegte, überquerten sie die Straße.
Dies war der Zeitpunkt für eine schnelle Entscheidung.
    Ich beschloß, Astrid Nicolaisen erst einmal ihrer eigenen
Wege gehen zu lassen, wartete, bis die beiden Mädchen um die
Ecke verschwunden waren und folgte ihnen dann mit gehörigem
Abstand.
    Es gab keinen Grund, vorsichtig zu sein. Es sah nicht so aus,
als hätten sie auch nur den geringsten Verdacht, daß jemand auf
die Idee kommen könnte, ihnen zu folgen.
    Nach fünf Minuten blieben sie plötzlich stehen. Sie steckten
die Köpfe wieder zusammen. Es sah aus, als würden sie eingehend die Fassade des großen, hell erleuchteten Gebäudes auf der
anderen Straßenseite betrachten. Die mit dem Hut hatte plötzlich
eine andere Haltung eingenommen, als sei sie angespannter, und
die Freundin sah sich wachsam um, während sie sprach.
    Ich selbst blieb vor einem Schaufenster stehen und tat, als
würde ich die Titelseiten von drei Tageszeitungen betrachten:
zwei aus Oslo und eine lokale, die sich, von der Farbgebung
abgesehen, nicht sonderlich unterschieden.
    Jetzt trennten die beiden Mädchen sich. Das mit dem Hut
überquerte die Straße. Die Freundin blieb stehen und sah ihr
eine Sekunde lang nach: dann drehte sie sich abrupt um und
rannte in meine Richtung.
    Ich starrte noch angestrengter auf die großen Überschriften mit
den Trivialitäten von gestern. Ein Staatspolitiker tobte wegen
ungerechter Behandlung in der abendlichen Tagesschau, und ein
Schlittschuhstar hatte an einem Mittwoch im Februar seine
Höchstform erreicht. Das Haukeland Krankenhaus war in einer
Krise, und in Lindås hatte es einen Verkehrsunfall gegeben, also
was war daran eigentlich neu?
    Das Mädchen zog an mir

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