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Die Schrift an der Wand

Die Schrift an der Wand

Titel: Die Schrift an der Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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geht es?«
»Es geht um Richter Brandt. Wir müssen ein paar Detailfragen
klären.«
Ihr blondes Haar fiel in dünnen, ungepflegten Wellen auf die
Schultern, und sie betrachtete mich durch große, goldgerahmte
Brillengläser, die ihr etwas zu weit auf die Nase gerutscht
waren. Sie war blaß, hatte hektische Blüten auf den Wangen und
trug nicht viel mehr als einen blauweißen, wattierten Morgenmantel.
»Können Sie sich ausweisen?«
Ich holte eine der Visitenkarten hervor, die ich mir von einem
Bekannten aus der Druckereibranche hatte anfertigen lassen,
bevor er Konkurs machte und den ganzen Mist in Brand steckte.
Wenn sie so hartnäckig sein sollte, daß sie die Telefonnummer
kontrollierte, kam sie nicht viel weiter als zu meinem Anrufbeantworter, der auf neutrale Art alles entgegennahm, von
Begräbnismusik bis zu den Posaunen des Jüngsten Gerichts. In
dem Fall hoffte ich, sie würde begreifen, daß die Versicherungsgesellschaft Nemesis zu den kleineren in der Branche gehörte,
und daß die Dame in der Vermittlung gerade Mittagspause
machte.
Aber so gründlich ging sie nicht zu Werke. Sie gab mir nur
Führerschein und Visitenkarte zurück, machte die Tür hoch und
das Tor weiter und murmelte matt: »Ich hoffe, es dauert nicht zu
lange. Ich bin krankgeschrieben.«
Ich trat in den Flur, wartete, bis sie die Tür hinter uns geschlossen hatte und folgte ihr in einen Raum, der sich als eine
Küche zum Hinterhof entpuppte. Eine Februartaube pickte
melancholisch auf der Fensterbank herum, in der Hoffnung, dort
ein paar überwinterte Brosamen zu finden.
Sie hatte mit einer halbvollen Kaffeetasse neben sich vor dem
Kreuzworträtsel einer Wochenzeitschrift gesessen. Ich setzte
mich dazu und warf einen schnellen Blick durch den Raum,
bevor ich meinen Notizblock herausholte und ein offizielles
Gesicht aufsetzte.
Der Raum war irgendwie halbherzig feminin eingerichtet,
deutlich dadurch geprägt, daß ihn zwei verschiedene Individuen
mit höchst unterschiedlichem Geschmack eingerichtet hatten.
Die eine bevorzugte das großgeblümte Muster der Gardinen, die
andere einen eher klaren, fast kryptographischen Stil, der sich
auf der Tapete zeigte.
»Möchten Sie eine Tasse Kaffee?« fragte sie, und als ich
nickte, hatte ich das Vergnügen, zu sehen, wie sie sich streckte,
um eine Tasse aus dem Küchenschrank zu holen.
Sie trug eine engsitzende, teenagerhafte Pyjamahose in rosa
kleingeblümter Baumwolle unter dem Morgenmantel, und die
nackten Füße steckten in zwei dunkelroten Pantoffeln mit
großen Pompons, die wie die Leihgabe einer Diva aussahen, die
sie vergessen hatte, zurückzugeben. Wenn sie nicht Gro Anita
gehörten. Ich hatte kaum Zweifel, welche von ihnen Blumen
und Pompons mochte und welche die mit der Vorliebe fürs
Kryptographische war.
Sie schenkte aus einer gelbweißen Thermoskanne Kaffee ein,
schob die Zeitschrift zur Seite und sah mich fragend an.
Ich nickte zum halbfertigen Kreuzworträtsel hin. »Ein unvorhergesehener Tod ist genauso. Eine lange Reihe unbeantworteter
Fragen und ein Fragebogen, den man Stück für Stück ausfüllen
muß, senkrecht und waagerecht, bis man – im besten Fall und
wenn man ein gutes Wörterbuch hat – schließlich die Lösung
findet, herausfindet, was eigentlich passiert ist.«
Sie bewegte sich unruhig. Mit dem Handrücken fühlte sie auf
ihrer Stirn, wie um zu unterstreichen, daß sie Fieber hatte. Ihre
Lippen waren trocken und gesprungen, mit weißen Hautplättchen auf dem dunklen Grund.
»Und es gibt immer noch ein paar Spalten, die wir nicht
ausfüllen konnten.«
Sie ließ die Wimpern flattern, nicht als Versuch, mich zu
beeindrucken; eher wie jemand, der plötzlich in etwas zu grelles
Tageslicht tritt. Aber sie sagte immer noch nichts.
»Wie gesagt … Um gleich zur Sache zu kommen … Sie waren
es doch, die ihn gefunden hat?«
Sie nickte. Ihr Blick glitt zum Fenster. Die Taube war jetzt
verschwunden, als hätte sie Gefahr gewittert. Noch immer fielen
Schneeflocken auf die Stadt, wie zum Zeichen eines nie enden
wollenden Verrats, blieben aber nicht liegen, weil sich das
Quecksilber immer noch einen oder zwei Millimeter oberhalb
der Null hielt.
»Können Sie mir erzählen, was geschehen ist?«
Als sie endlich etwas sagte, war ihre Stimme so leise, daß ich
mich vorbeugen mußte, um sie zu verstehen. »Ich weiß nicht,
was da drinnen passiert ist. Ich hab ihn nur gefunden.«
»Ja, ich weiß, aber … Sie wußten, daß er dort drin

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