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Die Schrift an der Wand

Die Schrift an der Wand

Titel: Die Schrift an der Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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Meise haben. Prostitution dreht sich in erster Linie um
Macht. Man kann sich die Herrschaft über einen Menschen für
einen begrenzten Zeitraum kaufen. Selbst die armseligsten
Kerlchen erfahren, daß also jemand noch schwächer dasteht als
sie selbst. Warum glaubst du, werden so viele von diesen
Mädchen schließlich in ihrer eigenen Umgebung vergewaltigt
und mißhandelt? Huren sind die Parias, Karin, und sind es
immer gewesen.«
»Und eine von ihnen war meine Schwester. Ich habe es nur nie
verstanden! Wir hatten dieselbe Mutter und denselben Vater, wir
kamen aus demselben Milieu, sind zusammen aufgewachsen.
Was war der Grund dafür, daß sie da gelandet ist, und ich …?«
»Tja, gute Frage. Geschwister sind eben verschieden. Die
Gene verteilen sich unterschiedlich. Aber in erster Linie, glaube
ich, geht es darum, mit wem du umgehst, was für Freunde du
hast in den Jahren, in denen du ernsthaft den Kurs für dein
Leben bestimmst. Siren hatte Pech, was das betrifft, das weißt
du sicher selbst, und du …«
Sie legte den Kopf wieder auf meine Brust und murmelte:
»Wenn wir nur geahnt hätten, daß es so kommen würde,
damals, als wir klein waren, hätten wir es dann anders gemacht?
Hätten wir das, was passiert ist, verhindern können? Hätten wir,
Varg?«
Ich konnte ihr die richtige Antwort darauf nicht geben. Niemand konnte das.
Es wurde eine unruhige Nacht. Als ich endlich einschlief, trieb
ich in einen unheimlichen Traum hinein. In einem Hotelzimmer
mit Aussicht auf das Letzte Gericht traf ich den Mann mit der
Holzfällerjacke wieder. Jetzt nahm er die Strickmütze ab und
zeigte mir sein Gesicht. Aber es war kein Gesicht, es war ein
nackter Totenschädel, als sei der Tod selbst auf Tournee in der
Provinz und hätte endlich einen dankbaren Zuhörer gefunden.
Ich wachte schweißgebadet auf und war nicht in der Lage,
wieder einzuschlafen.
28
    Der Dienstag war ein Tag mit ruhigem, klarem Himmel, einem
pfirsichfarbenen Licht im Osten und einem blassen Mond, von
dem jemand über dem Damgårdsfjell und dem Lyderhorn ein
Stück abgebissen hatte.
    Wir gingen durch Kalfaret in die Stadt, folgten der Strömung
in der Fußgängerzone von Marken, und am Strandkai gaben wir
uns einen hastigen Abschiedskuß, bevor sie weiter zu den Büros
des Einwohnermeldeamtes in Myrhjørnet ging und ich die
Treppen hinauf in den dritten Stock, die Zeitung unter dem Arm
und den Schlüssel in der Hand.
    Im Laufe des vergangenen Tages hatte der ›Zeuge‹ den Status
eines ›Verdächtigen‹ bekommen, aber man ließ ihn nach wie vor
anonym bleiben.
    Den Zeitungsartikeln zufolge stritt der ›Verdächtige‹ allerdings jegliche Beteiligung an dem Mord ab, abgesehen davon,
daß er Torild Skagestøl ›bei ein paar Gelegenheiten‹ getroffen
hatte. Eine der Zeitungen zitierte allerdings eine Quelle, die
bestätige, daß der ›Verdächtige‹ zusammen mit Torild Skagestøl
›und einem anderen Mädchen‹ am Donnerstag nachmittag in
›der kombinierten Spielhalle und Snackbar Jimmy im Zentrum
Bergens‹ gesehen worden war.
    Ich blätterte in meinen Notizen zurück. Hatte Astrid Nikolaisen nicht dasselbe gesagt? Doch, da stand es, Torild und Åsa
zusammen mit ›irgendeinem Typ‹. Helge Hagavik, der geheimnisvolle ›Verdächtige‹?
    Ich notierte mir in Gedanken drei Dinge. Ich mußte mit Astrid
Nikolaisen reden, ich mußte noch einmal mit Åsa reden und –
wenn möglich – mit Helge Hagavik.
    Damit würde ich den größten Teil des Tages beschäftigt sein
und es würde mir weitgehend dabei helfen, die Gedanken an das
Datum des folgenden Tages wegzuschieben.
    Das Haus, in dem Kenneth Persen wohnte, lag auf der Schattenseite der Straße, in dem Stadtteil, der im Schatten des KleinManhattan in Nygårdstangen ruht und der kaum jemals wieder
Licht sehen wird. Sein Name stand an einem der acht Postkästen
im Treppenhauseingang, aber als ich hinaufstieg, stand an keiner
einzigen Tür ein Name, als seien alle Bewohner anonyme
Alkoholiker.
    Ich ging von Etage zu Etage, blieb stehen, um nach Geräuschen zu lauschen, die verrieten, daß jemand zu Hause war, und
klopfte an einige der Türen, hinter denen ich meinte, Anzeichen
von Leben zu vernehmen. Aber niemand öffnete.
Schließlich beschloß ich, daß ich genug Zeit in diesen Teil des
Projektes investiert hatte und verließ das Haus.
    Vor der Bystasjon saß eine Handvoll Jugendlicher, die Schultaschen zu ihren Füßen, rauchend auf einem Betonzaun am
Zugang

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