Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schrift an der Wand

Die Schrift an der Wand

Titel: Die Schrift an der Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
Vom Netzwerk:
Übersicht
über das meiste, was sich auf der unteren Ebene befand, aber der
schwarzgekleidete Motorradfahrer war nirgends zu sehen.
Kurz darauf war ich auf dem Weg zum Flugzeug. Zwei, drei
Köpfe vor mir in der Schlange entdeckte ich eine große schlaksige Gestalt, die mir bekannt vorkam. Aber erst als er sich oben
auf der Treppe umdrehte, bestätigte sich, daß er es wirklich war.
Holger Skagestøl und ich hatten das gleiche Ziel.
Er fand einen Sitzplatz, und ich blieb neben ihm stehen.
»Macht es etwas, wenn ich mich hier hinsetze?«
Er sah auf und runzelte die Stirn. »Veum? Was zum T …! Sie
verfolgen mich doch hoffentlich nicht?«
»Nein, bewahre! Ich habe einen Auftrag in Stavanger.«
»Na ja, dann …« Aber er beäugte mich mißtrauisch, als ich
mich hinsetzte, so als fühlte er sich ganz und gar nicht sicher.
    Die allermeisten empfinden eine natürliche Angst, wenn die
Türen geschlossen werden, wenn man aufgefordert wird, die
Sicherheitsgurte anzulegen und das Flugzeug zum Abheben von
der Rollbahn ansetzt.
    Dieses Mal empfand ich nur Erleichterung, als sich die Türen
schlossen und ich sicher war, daß der Mann im Motorraddreß
nicht unter den Passagieren war. Wenn er sich nicht blitzschnell
auf der Toilette umgezogen hatte, denn dann konnte es jeder xbeliebige sein. Sogar …
    Ich betrachtete Holger Skagestøl.
… Nein. Ich glaubte es nicht.
    Skagestøl hatte genauso angespannte Gesichtsmuskeln wie bei
unserer letzten Begegnung. Er trug einen grauen Anzug und
hatte einen hellbraunen Wintermantel an den Haken über dem
Sitz gehängt.
»Beruflich unterwegs?« fragte ich vorsichtig.
     
Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Ja. Leiterkonferenz
vom Landesverband der norwegischen Zeitungen.«
    »Über mehrere Tage?«
»Bis morgen. Ich hätte selbstverständlich auch absagen können, in Anbetracht der Umstände, aber irgendwie … es kann
    guttun, an etwas anderes zu denken.«
»Steht schon fest, wann sie beerdigt wird?«
»Nein, die Polizei … Aber es wird wohl irgendwann in der
    nächsten Woche sein. So früh wie möglich, hoffe ich.« Als
glaubte er, sich erklären zu müssen, fügte er hinzu: »Ich meine
… es ist irgendwie erst dann vorbei.«
Das Flugzeug hob ab, und wir saßen stumm, bis es den richtigen Kurs eingeschlagen hatte und das Signal, daß wir die
Sicherheitsgurte wieder lösen konnten, blinkte.
    »Ihr seid natürlich froh, daß der Täter so verhältnismäßig
schnell gefaßt wurde.«
Er warf mir einen schnellen Blick zu. »Doch, doch. Er hat
noch nicht gestanden.«
»Nein, das tun sie nie sofort. Erst wenn sie sehen, daß die
Schlacht verloren ist, dann … Und dann plätschert es nur so aus
ihnen heraus, als sollten sie sich plötzlich vor einer höheren
Macht erklären.«
»Wer weiß, vielleicht müssen sie das ja auch.«
Eine Stewardeß kam mit einer Dose Juice und einem halben
Brötchen auf einem kleinen Plastiktablett. »Eine Zeitung?«
fragte sie mit einem Lächeln.
Ich schüttelte den Kopf, aber Holger Skagestøl sagte ja. »Gerne beide, bitte.«
Er bekam sie, überflog schnell die Titelseiten, legte die eine
auf den Schoß und breitete die andere aus, um sie dann aufzuschlagen und die ersten Seiten schnell und mit besorgter Miene
durchzublättern. In der Mitte angekommen, legte er die Zeitung
abrupt aus der Hand, griff nach der anderen und wiederholte die
Prozedur.
Der ganze Mann schien unter einer Last gebeugt, als er zu mir
herübersah und sagte: »Zum ersten Mal in meinem Leben weiß
ich, wie es ist, wenn man den Leitartikeln der Zeitungen
ausgeliefert ist, Veum.«
»Eine neue Erfahrung?«
»Wirklich grauenhaft! Man ist ja – sogar ich, der mittendrin
ist, und bei dem man eigentlich erwarten sollte, daß er ein wenig
Einfluß auf das hat, was geschrieben wird – machtlos, schlicht
und einfach. Machtlos«, wiederholte er, wie um sicherzugehen,
daß ich es auch mitbekommen hatte.
Ich nickte.
»Plötzlich begreift man, daß viele Dinge, die man selbst
gemacht hat, Übergriffe waren. Man erfährt am eigenen Leib
das, womit andere früher zu einem gekommen sind, um ihr Leid
zu klagen: daß man nicht gehört wird, daß alle Einwände, alle
Bitten, deine privaten Erlebnisse auszusparen – daß niemand
darauf hört, weil du plötzlich zu einem Nachrichtenthema
geworden bist.« Dabei zog er eine Grimasse.
Durch ein paar vereinzelte Öffnungen in der Wolkendecke
unter uns erkannten wir ein dunkles Fjordstück und die windverwehte

Weitere Kostenlose Bücher