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Die Schrift an der Wand

Die Schrift an der Wand

Titel: Die Schrift an der Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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Erklärungsmodelle aufzubauen, die
Verteidigungsmauern um ihr Ich. Dies war Holger Skagestøls
Version. Seine Frau würde ihre eigene haben. Ich selbst hatte
die Erfahrung gemacht, daß sich die Wahrheit irgendwo
ungefähr in der Mitte befand.
Ich versuchte es mit einem neuen Einfallswinkel. »Also …
nicht daß es mich etwas anginge, aber – Wer hat eigentlich wen
verlassen – von euch?«
»Tja, genau. Nicht daß es Sie etwas anginge!«
Nach einer Weile konnte er sich trotzdem nicht beherrschen.
Er drehte sich halb zu mir herum und schlug sich demonstrativ
auf die linke Brust. »Ein Herz aus Stein, verstehen Sie? – Es
gibt so viele verlassene Trottel von Männern da draußen, die
einmal in der Woche Besuchsrecht für ihre Kinder haben.«
»Als ob ich das nicht wüßte.«
»Mich finden Sie nicht in der Kompanie, Veum. Ich schaue
niemals zurück! Niemals!«
»Niemals ist ein großes Wort, Skagestøl. Viel zu groß für die
meisten von uns.«
Er schnaubte, drehte sich zur Seite und sah aus dem Fenster.
Das Flugzeug näherte sich jetzt Sola. Auf die Anweisung hin
legten wir die Sicherheitsgurte an und tauchten dann unter die
Wolkendecke. Das Meer lag grau und griesgrämig unter uns,
wie das Abwasser eines allzu flüchtigen Winters. Die Badestrände waren menschenleer und erinnerten schwach an
abgenagte Knochenreste gigantischer Kadaver.
Holger Skagestøl blätterte ziellos in einer der Zeitungen, allem
Anschein nach über sich selbst verärgert wegen seiner Reden.
Kurz darauf waren wir unten.
Es wäre vielleicht normal gewesen, wenn wir uns ein Taxi in
die Stadt geteilt hätten, wo wir doch trotz allem irgendwie
Bekannte waren. Aber keiner von uns unternahm den nötigen
Anlauf, und schließlich nahm er allein eins, in königlicher
Isolation, während ich mit dem Flughafenbus in die Stadt fuhr.
38
    Wenn man mit dem Flugzeug von Bergen nach Stavanger fliegt,
muß man sich damit abfinden, mehr Zeit im Auto oder Bus zu
verbringen als in der Luft, selbst wenn der Verkehr so reibungslos ins Zentrum von Stavanger fließt wie an dem Tag, an dem
ich sterben sollte.
    Die Landschaft um die Stadt herum war ausgebleicht und
nackt, und die Baumkronen schaukelten im Wind. Trotzdem
konnte man jetzt schon ahnen, warum der Frühling hierher
früher kam als irgendwo sonst ins Land. Kein Schneekörnchen
war zu sehen, nur ein paar zerstückelte Kreidezeichen irgendwo
in den Weiten des Ryfylke. Die Sonne zeichnete scharfe
Einschnitte in die Wolken, stach durch die Busfenster und blieb
schwelend auf der Haut liegen. Aber als ich ausstieg, spürte ich
den Meereswind wie das Kratzen einer schmutzigen Kralle auf
der Wange, und mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter.
Noch hatte der Winter die Oberhand.
    Ich stieg beim Dom aus, grüßte die Alexander-Kielland-Statue
und sah mich um. Als ich das letzte Mal in der Stadt gewesen
war, schien sie ein modernes Klondyke zu sein, hektisch und
aufgedreht durch den plötzlichen Reichtum. Jetzt hatte sich alles
wohl etwas beruhigt. Die Stadt hatte sich endlich mit ihrem
neuen Status abgefunden, ein Ort, an dem Neil Young mit
erhobenem Haupt ›After the goldrush‹ singen konnte, ohne
ausgepfiffen zu werden.
    Stavanger war einer der Orte, die Gott vergessen hatte. Vielleicht hatte man hier gerade deshalb so viele Bethäuser errichtet,
in dem vergeblichen Versuch, den Kontakt wiederherzustellen.
Als man endlich aufgegeben hatte, verfiel man statt dessen dem
Mammon, obwohl die alten Neonbuchstaben, die verkündeten,
daß Jesus das Licht der Welt sei, noch immer wie ein vorzeitliches Denkmal über Breiavatnet leuchteten.
    Stavanger war eine Stadt, zu der ich schon immer ein ambivalentes Verhältnis gehabt hatte. Von 1966 bis 1969 hatte ich hier
die Hochschule für Sozialwissenschaften besucht. Anfangs
wohnte ich in einer ziemlich kümmerlichen Einzimmerwohnung
hinter Banevigå. Im Jahrgang über mir war ein Mädchen aus
Jørpeland, Beate Larsen, und bei einem farbenfrohen Meeting in
einer Art Kollektiv irgendwo in der Gegend von Egeland
endeten wir schließlich in der Küche wie zwei selbstversunkene screw-ball Komödianten, ohne im geringsten zu merken, was
um uns herum vor sich ging.
    Am Tag danach nahmen wir den Bus nach Sola und gingen
Hand in Hand den Strand entlang, obwohl es schon Ende
September und der Sommer längst in Richtung Süden gezogen
war. Und als wir in die Stadt zurückkamen, lud sie mich in ihre
Wohnung ein, wo wir die frische

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