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Die Schrift an der Wand

Die Schrift an der Wand

Titel: Die Schrift an der Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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verspätet, und
es gibt einzelne Fälle, die einfach vorgehen müssen! Ich hoffe,
Sie verstehen das –«
    »Pah! Einzelne Fälle!« Auf dem Weg zurück zu ihrem Stuhl
maß sie mich von Kopf bis Fuß. »Sie – Sie sind wohl Politiker,
stimmt’s? Die kommen ja immer als erste an die Reihe«, sagte
sie an die anderen gewandt, mit einem Gesichtsausdruck, als
erwarte sie Applaus. Aber alles, was sie als Reaktion bekam,
war das nervöse Rascheln von Wochenzeitschriften und das eine
oder andere zustimmende Nicken.
    Kurze Zeit später kam ein älterer Herr mit auffallend roter
Nase und aufgeknöpftem Hemd aus dem Sprechzimmer. Die
Sprechstundenhilfe öffnete die Luke und nickte mir zu. »Jetzt
sind Sie dran.«
    In Anbetracht der wütenden Blicke, die mich verfolgten, war
es gar nicht so unwahrscheinlich, daß auch ich bald einen Arzt
brauchen würde. Aber in dem Fall würde ich zu einem anderen
gehen. Das einzige, was sich Dr. Evensen vermutlich vorstellen
konnte, mir auszuschreiben, war eine einfache Fahrkarte zum
Mond.
Er saß hinter seinem Schreibtisch, mit einem Gesicht so ausdrucksvoll wie das eines Dorschkopfs auf dem Fischmarkt. Er
war in meinem Alter, vielleicht zwei, drei Jahre älter, aber mit
deutlich mehr Grau in dem dünnen, nach hinten gekämmten
Haar. Er trug einen weißen Arztkittel, aus dessen einer Tasche
ein Stethoskop hervorschaute. Seine Brille war altmodisch, mit
dunkelbrauner, fast schwarzer Fassung, seine Lippen schmal
und sein Blick kalt. Das einzige Anzeichen seiner Nervosität
war die Art, wie er mit flattrigen Fingern leise auf den Schreibtisch trommelte.
»Wie war noch gleich der Name?« fragte er mit einem kleinen
    Rülpsen, als sei er seekrank.
»Veum«, sagte ich und blieb gleich an der Tür stehen.
»Und was wünschen Sie?«
    »Ich möchte mit Ihnen ein paar Worte bezüglich einer sogenannten ›Sicheren Liste‹ und einiger junger Damen wechseln,
von denen eine …«
»Und in wessen Namen kommen Sie?«
     
»Im Namen der ganzen Welt«, sagte ich, »im Namen aller, die
Kinder haben!«
    Er betrachtete mich irritiert. Dann nickte er zum Sessel, als sei
ich ein Patient, dem er sein endgültiges Todesurteil aussprechen
mußte.
    Ich setzte mich. »Ich denke, Sie wissen, wovon die Rede ist.
Es gibt keinen Grund, um den heißen Brei herum zu reden.
Torild Skagestøl ist tot, eines der anderen Mädchen hat alles
erzählt. Das einzige, was Ihnen ein Stück weit helfen kann,
wenn die Polizei sich einschaltet, ist, zu sagen, womit Birger
Bjelland Sie erpreßt hat.«
    Er reagierte nicht im geringsten auf den Namen. Sein Blick
war genauso tot und wäßrig wie zuvor. Dann hob er den
Telefonhörer ab und wählte eine achtstellige Nummer.
»Hier ist Dr. Evensen. Ist er da? Ja, genau. Danke.«
Ich hörte in der Ferne eine Frauenstimme antworten.
Er sah zum Fenster. Es schneite immer noch. Das Dröhnen des
    Verkehrs auf der Strandgate klang merkwürdig gedämpft. Ich
fragte mich, ob das am Schnee lag, oder ob er besonders gut
isolierte Fenster hatte.
    »Ja, hier ist … Ich hab hier einen Typ, der sich Veum nennt.
Er …«
Diesmal war es eine Männerstimme, und der Tonfall klang
alles andere als liebenswürdig. Ich bemerkte, daß sich auf
Dr. Evensens Stirn inzwischen eine dünne Schweißschicht
gebildet hatte.
»Was? Ja, er sitzt … Er behauptet, daß er alles weiß. Er sagt
sogar … Ja. Nein. Okay. Dann verlaß ich mich drauf. Auf …«
Die Verbindung wurde mit einem scharfen Laut am anderen
Ende unterbrochen.
Dann wandte er sich wieder mir zu. »Ich habe nichts zu sagen.
Wenn die Polizei kommt, dann verlange ich nach meinem
Anwalt.«
»Die Mädchen, die Sie abends untersucht haben, hätten vielleicht auch ihren Anwalt dabeihaben sollen, was?«
»Ich habe gesagt, ich sage nichts!«
»Sie haben schon mehr als genug gesagt. Dieses Telefonat …
Die ›Sichere Liste‹!« Ich beugte mich nach vorn, mit einer so
plötzlichen Bewegung, daß es wie von eisigen Nadeln in
meinem Kopf stach. »Oh, Scheiße!«
Er betrachtete mich ohne den leisesten Anflug von Mitgefühl.
»Solche wie Sie hab ich schon öfter kleingekriegt«, sagte ich,
»also fühlen Sie sich bloß nicht zu sicher! Und so was nennt
sich Arzt! Hippokrates hätte an der Tür kehrtgemacht, wenn er
Sie gesehen hätte. Ihnen war es egal, daß Sie es mit jungen
Mädchen zu tun hatten – mit Kindern! Daß sie Eltern hatten, die
sich um sie sorgten?«
Sein verärgerter Gesichtsausdruck signalisierte mir,

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