Die Schrift in Flammen
Verabschiedung des Haushalts sowie Außenhandelsverträge, kurz alles verhinderte, sodass der ganze Regierungsapparat in eine außergesetzliche Lage getrieben wurde.
Außenstehenden erschien diese Hartköpfigkeit unverständlich, die Sturheit, mit der da eine Zwergminderheit ihren Willen nicht nur der Mehrheit des ungarischen Parlaments, sondern der ganzen Monarchie und sogar dem alten Franz Joseph aufzuzwingen suchte. Nur wer die überbordende juristische Denkweise kannte, an die sich die ungarische Öffentlichkeit während Jahrhunderten gewöhnt hatte und dank der es mehrmals gelungen war, gegen die Habsburger zu Erfolgen zu kommen, begriff diese Zähigkeit. Die Ungarn beriefen sich unablässig auf ihre nationalen Errungenschaften von 1790 und 1867, und sie durften dies umso eher tun, als weder die Historiker noch die am Ausgleich von 1867 beteiligten Politiker je zugegeben hätten, dass der Löwenanteil jener Triumphe eine Folge der damaligen internationalen Lage gewesen war, während sie selber alles einzig der siegreichen Kraft der Paragrafen zuschrieben.
Die kleine Ugron-Barra-Gruppe fühlte sich demnach berechtigt zu glauben, dass die Rechtsvorschriften stärker seien als die unumgänglichen Realitäten des Lebens, und jedes Mal, wenn die Frist für den haushaltlosen Zustand oder die Militärdienstzeit auslief, vermeinte sie, die Staatsmacht werde gezwungen sein, die Waffen vor ihr zu strecken.
Das breite Publikum glaubte dasselbe, denn es war von der Schule, den Tageszeitungen und sogar vom größten Teil der führenden Politiker in dieser Auffassung erzogen worden. Der im März geschlossene parlamentarische Friede war unter der Vermittlung des alten Kálmán Thaly teils wegen der Ermüdung der obstruierenden Gruppe und teils darum zustande gekommen, weil István Tisza mit Gewaltanwendung gedroht, für den Friedensfall aber Zugeständnisse in Aussicht gestellt hatte.
Die meisten begrüßten die Einigung freudig. Es gab aber nicht wenige, die jetzt sogar Gábor Ugron und Sámuel Barra eine weiche Haltung vorwarfen und zu Hause, wenn sie an ihrer Pfeife schmauchten, sich als noch rebellischere Ungarn gaben als jene.
Hier in Vársiklód beim gespritzten Wein gehörte der greise Bartókfáy zu dieser Sorte. »Wäre ich dabei gewesen, ich weiß bestimmt«, sagte der Alte mit dem Akzent der Leute aus der Maros-Gegend, »der böse Pista Tisza hätte es nicht so leicht geschafft. Ich hätte ihn wegen Gesetzesverletzung unter Anklage gestellt!«
»Eine Gesetzesverletzung lässt sich das nicht nennen«, erwiderte der Obergespan.
»Man hat Steuern eingetrieben, über die nicht abgestimmt wurde«, fuhr Bartókfáy fort.
Hier mengte sich der stets auf Regierungsseite stehende Hauptnotar ein. »Ich bitte, es ging nur um freiwillige Zahlungen, eine Betreibung gab es nie«, stellte er fest.
Doch der alte Rebell war nicht zu bremsen: »Von der Sache mit dem Militär rede ich gar nicht, um die kam man womöglich wegen der Preußen nicht herum, aber dass sie auch über Handelsverträge Verhandlungen begannen, das ist ein Verfassungsbruch, jawohl, ein Ver-fas-sungs-bruch, und zwar selbst gemäß eurem Ausgleich mit Österreich.«
»Bitte, Verhandlungen darüber musste und durfte man führen, nur ein Abkommen zu schließen, das wäre nicht möglich gewesen«, verteidigte sich der Obergespan, »allein ein Abschluss wäre ungesetzlich, ja, das wäre verboten, das sehe ich auch so, aber …«
»Verhandlungen zu führen, ist absurd.«
»So etwas zu sagen, ist absurd«, replizierte Péter Kis, nun schon zorniger.
Doch da ertönte ein schöner Bariton, mit so melodiösen Tiefen wie eine Orgel. Doktor Zsigmond Boros, der ausgezeichnete Anwalt, schaltete sich ein: »Bitte, Herr Obergespan, unser alter Freund hat da recht, und wenn Sie alle erlauben, will ich die Sache gleich beleuchten.« Er strich über seinen schaufelförmigen, rötlichen Bart und begann kenntnisreich und mit korrekt gebauten Sätzen zu erklären: »Der österreichisch-ungarische Zolltarif kann nur zustande kommen« – und hier zitierte er den einschlägigen Gesetzesabschnitt –, »wenn zuvor sowohl das österreichische als auch das ungarische Parlament gesondert den eigenen Zolltarif festgelegt und sie hernach auf dieser Grundlage in Verhandlungen auch den gemeinsamen Satz bestimmt haben. Nur dann, wenn die Sache auf diese Weise unter Dach ist, darf man legal mit dem Ausland Gespräche beginnen, weil vorher die Regierung des ›ius actionis‹
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