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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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Hals nicht lockern. Mir ging langsam die Luft aus, aber ich wartete geduldig darauf, dass der Verletzte zur Besinnung kam. Als er mich endlich losließ, kribbelte es in meinen Schläfen.
    Der Offizier fiel auf den Tisch zurück. Sein Arm erschlaffte, baumelte eine Weile hin und her, hing dann reglos herab.
    »Geh zur Seite«, befahl mir der Krankenpfleger, den mein Stöhnen alarmiert hatte.
    Er untersuchte den Verwundeten, fühlte ihm den Puls …
    »Er ist nur ohnmächtig geworden. Er muss jetzt ins Bett. Er braucht Ruhe.«
    Die drei Widerstandskämpfer blieben rund zehn Tage bei uns. Ich ging wie gewohnt meiner Arbeit nach, als wenn nichts wäre. Germaine, die fürchtete, jemand aus der Verwandtschaft könne ohne Vorwarnung bei ihr auftauchen, telefonierte mit ihrer Familie in Oran und teilte ihr mit, sie müsse für einige Zeit nach Colomb-Béchar, in die Wüste, und würde sich nach ihrer Rückkehr wieder melden. Laoufi, der Krankenpfleger, hatte seinen Capitaine in meinem Zimmer einquartiert und wachte Tag und Nacht an seinem Bett. Ich schlief derweil auf dem alten Sofa im Arbeitszimmer meines Onkels. Djelloul schaute oft vorbei, um mich aus der Reserve zu locken. Etwas lastete ihm schwerauf der Seele – meine Einstellung zum Krieg, den unser Volk um seine Unabhängigkeit führte. Sie stieß ihn ab. Ich wusste, er wartete nur auf ein Wort von mir, um mich durch den Schmutz zu ziehen; daher schwieg ich. Eines Abends, während ich gerade ein Buch las, sagte er, nachdem er begriffen hatte, dass ich keinen Austausch wünschte:
    »Im Leben ist es wie im Film. Es gibt Schauspieler, die treiben die Geschichte voran, und Statisten, die verschmelzen mit dem Hintergrund. Sie sind zwar auch da, aber es interessiert sich kein Mensch für sie. Genau so einer bist du, Jonas. Ich bin dir nicht böse, aber du tust mir wirklich leid.«
    Mein anhaltendes Schweigen regte ihn auf, und am Ende schrie er mich dann doch an:
    »Wie kann man nur den Blick abwenden, während die Welt ein solches Stück aufführt?«
    Ich sah kurz auf, dann las ich weiter. Er riss mir das Buch aus den Händen und schleuderte es gegen die Wand:
    »Ich rede mit dir!«
    Ich hob mein Buch vom Boden auf und kehrte zum Sofa zurück. Wieder versuchte er, es mir zu entreißen; diesmal packte ich ihn am Handgelenk und stieß ihn zurück. Djelloul musterte mich verblüfft und knurrte:
    »Du bist wirklich ein Feigling. Was in unseren Dörfern los ist, die man mit Napalm bombardiert, in den Gefängnissen, wo man unsere Helden köpft, im Maquis, wo wir zu Tausenden unsere Toten einsammeln, in den Lagern, wo unsere Soldaten elend verrecken, das alles siehst du nicht. Was für eine Art Mensch bist du nur, Jonas? Hast du denn nicht begriffen, dass ein ganzes Volk dafür kämpft, damit du, auch du, gerettet wirst?«
    Ich gab keine Antwort.
    Er schlug mir mit der flachen Hand auf den Kopf.
    »Fass mich ja nicht an!«, rief ich.
    »Alle Achtung! Ich mache mir gleich in die Hose … Du bist und bleibst ein Feigling. Ob du nun die Stirn runzelst oder die Arschbackenzusammenkneifst, das nimmt sich nichts. Ich frage mich, was mich davon abhält, dir die Kehle durchzuschneiden.«
    Ich legte mein Buch zur Seite, erhob mich und baute mich vor ihm auf.
    »Was weißt denn du von der Feigheit, Djelloul? Wer verkörpert sie deiner Meinung nach? Der, den man entwaffnet hat und der an seiner Schläfe die Pistole spürt, oder der, der ihm androht, ihm das Hirn wegzupusten?«
    Er musterte mich verächtlich.
    »Ich bin kein Feigling, Djelloul. Ich bin weder taubstumm noch aus Beton. Wenn du es genau wissen willst, nichts auf der Welt beeindruckt mich noch. Nicht einmal das Gewehr, das seinem Besitzer erlaubt, Menschen zu erniedrigen. Hat nicht Erniedrigung dich gezwungen, zu den Waffen zu greifen? Warum erniedrigst du dann heute die anderen?«
    Er bebte vor Wut, kämpfte mit sich, um mir nicht an die Gur gel zu gehen, dann spuckte er vor mir aus und verließ türenknallend den Raum.
    Er behelligte mich nie wieder. Wenn wir uns auf dem Gang trafen, ging er mir sichtlich angewidert aus dem Weg.
    Während ihres Aufenthalts bei uns im Haus verbot mir Djelloul, mich dem Capitaine zu nähern. Wenn ich Sachen aus meinem Zimmer brauchte, besorgte sie der Krankenpfleger. Ich sagte ihm, wo ich diesen oder jenen Gegenstand aufbewahrte, und er holte ihn mir. Nur einmal, als ich gerade aus dem Badezimmer kam, sah ich den Patienten flüchtig durch die angelehnte Tür. Er saß auf dem Bett, mit dem

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