Die Schuld des Tages an die Nacht
hätte, kein einziges Wort hatte sagen hören. Das Maultier kletterte einen steilen Pfad bergauf, erklomm einen Felsgipfel und verschwand. Dahinter huschten die Silhouetten durchs Dickicht, reichten sich die Hände und halfen einander gegenseitig den Abhang hinauf. Dann war niemand mehr zu sehen. Nicht lange, und ich hörte nur noch den Nachtwind in den Büschen säuseln.
Meine Hand weigerte sich, den Zündschlüssel zu betätigen. Ich war überzeugt, dass Djelloul irgendwo im Dunkeln lauerte, ganz in der Nähe, das Gewehr auf mich angelegt, und nur auf das Aufheulen des Motors wartete, um seinen Schuss abzugeben.
Ich brauchte eine Stunde, um mir einzugestehen, dass sie tatsächlich über alle Berge waren.
Monate später fand ich in meinem Briefkasten einen unbeschrifteten Briefumschlag. Darin ein aus einem Schulheft gerissenes Blatt mit einer Medikamentenliste. Weiter nichts. Ich bestellte die fraglichen Medikamente und packte sie in einen Karton. Laoufi kam eine Woche später vorbei und holte sie ab. Es war drei Uhr nachts, als ich hörte, wie etwas gegen meine Fensterläden schlug. Germaine hatte es auch gehört; ich überraschte sie im Morgenmantel im Korridor. Wir sagten kein Wort. Sie sah mir nach, als ich ins Hinterzimmer der Apotheke ging. Ich übergab den Karton dem Krankenpfleger, verriegelte die Eingangstür und legte mich wieder schlafen. Ich dachte, Germaine würde kommen und mich zur Rede stellen, aber sie legte sich gleichfalls wieder ins Bett, hinter doppelt verschlossener Tür.
Laoufi kam noch weitere fünf Male, um Kartons zu holen. Immer auf dieselbe Art und Weise: ein neutraler Umschlag, zu nächtlicher Stunde in meinen Briefkasten geschoben, ein Zettel, darauf die hastig notierte Medikamentenliste, und von Zeit zu Zeit eine Bestellung an Pflegematerial: Spritzen, Watte, Kompressen,Scheren, Stethoskop, Aderpressen und so fort. An meinem Fenster das Klacken des Kieselsteins. An der Tür der Krankenpfleger. Und Germaine auf dem Treppenabsatz.
Eines Abends erhielt ich einen Anruf. Djelloul bat mich, ihn an dem Ort zu treffen, wo ich ihn mit dem Capitaine und dem Krankenpfleger abgesetzt hatte. Als Germaine mich in aller Herrgottsfrühe den Wagen aus der Garage fahren sah, bekreuzigte sie sich. Ich merkte, dass wir gar nicht mehr miteinander sprachen … Djelloul war nicht da. Kaum war ich wieder zu Hause, rief er an und bat mich, noch einmal an denselben Ort zurückzukehren. Diesmal wartete dort ein Hirte auf mich und übergab mir einen Koffer voller Geldscheine. Er befahl mir, das Geld so lange bei mir zu verstecken, bis jemand es abholen käme. Der Koffer blieb volle zwei Wochen bei mir. Eines Sonntags rief Djelloul an. Er beauftragte mich, das »Paket« nach Oran zu bringen und, ohne aus dem Auto zu steigen, gegenüber einer kleinen Schreinerei hinter der »Brasserie BAO « zu warten. Ich tat wie geheißen. Die Schreinerei war geschlossen. Ein Mann ging an mir vorbei, kam zurück, hielt auf meiner Höhe an, ließ mich den Kolben seiner unter der Jacke versteckten Pistole sehen und befahl mir auszusteigen. »In einer Viertelstunde bin ich wieder da«, sagte er noch und schwang sich hinter das Steuer. Genau fünfzehn Minuten später bekam ich mein Auto zurück.
Dieses Doppelleben setzte sich den ganzen Sommer, den ganzen Herbst über fort.
Als Laoufi das letzte Mal zu mir kam, war er ungewöhnlich nervös. Er schielte unablässig zu den Weinfeldern hinüber, während er die Medikamente in einen Rucksack füllte. Nachdem er den Rucksack geschultert hatte, warf er mir einen Blick zu, den ich bei ihm noch nie erlebt hatte. Er wollte mir noch etwas sagen, doch er schluckte nur schwer, hievte sich auf die Zehenspitzen und küsste mich zum Zeichen des Respekts auf den Scheitel. Er zitterte in meinen Armen. Es war kurz nach vier Uhr morgens, und am Horizont wurde es langsam hell. War es das beginnende Morgengrauen, das ihm so zusetzte?
Laoufiwar sichtlich von einem Vorgefühl zerfressen. Er verabschiedete sich und verschwand eiligst in den Weinfeldern. Ich sah ihn in die Dunkelheit eintauchen, hörte das Knistern des Blattwerks längs seines Wegs immer leiser werden. Der Mond am Himmel sah wie ein abgebissener Fingernagel aus. Ab und an wehte ein Wind und legte sich wieder.
Ich setzte mich auf die Bettkante, ohne Licht zu machen, sämtliche Sinne in Alarmbereitschaft … Schüsse zerrissen die Stille der Nacht, und alle Hunde ringsum begannen zu bellen.
In der Morgendämmerung klopfte es an der
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