Die Schuld des Tages an die Nacht
konnte sich ungestraft so mancherlei herausnehmen und auf sein Entgegenkommen bauen, aber der Spaß hörte da auf, wo es um sein Ehrenwort ging. Jetzt, da er sich für mich verbürgt hatte, zerbrach Pépé Rucillio sich den Kopf darüber, ob es auch richtig gewesen war.
Er brachte mich ins Dorf zurück und setzte mich vor der Haustür ab. Er half mir nicht beim Aussteigen, ließ mich alleine zurechtkommen, ohne mich zu beachten.
»Meine Reputation steht auf dem Spiel, Jonas«, grummelte er. »Sollte mir jemals zu Ohren kommen, dass du mich belogen hast, kümmere ich mich eigenhändig um deine Exekution.«
Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nahm, ihn zu fragen:
»Jean-Christophe?«
»Isabelle!«
Er schüttelte den Kopf und seufzte:
»Ihr kann ich nichts abschlagen, aber wenn sie sich in dir getäuscht haben sollte, dann verstoße ich sie auf der Stelle.«
Germaine nahm mich auf dem Gehweg in Empfang. Sie vermied es, mir irgendwelche Vorwürfe zu machen. Sie war allzu glücklich, mich lebendig zu sehen, ließ mir rasch ein heißes Bad einlaufen und bereitete mir das Essen zu. Danach versorgte sie meine Wunden, verband die schlimmsten Verletzungen und half mir ins Bett.
»Hast du Isabelle angerufen?«, fragte ich sie.
»Nein … Sie hat von sich aus angerufen.«
»Sie ist doch in Oran. Wie konnte sie davon wissen?«
»In Río spricht sich alles herum.«
»Und was hast du ihr erzählt?«
»Dass du nichts dafür kannst, für diese ganze Geschichte.«
»Und natürlich hat sie dir geglaubt?«
»Danach habe ich sie nicht gefragt.«
Meine Fragen hatten sie verletzt. Vor allem die Art, wie ich sie gestellt hatte. Mein kühler Ton, in dem ein unausgesprochener Vorwurf mitschwang, verwandelte ihre Freude, mich heil und gesund wieder in die Arme zu schließen, in eine leise Enttäuschung, die schon bald in dumpfe Wut umschlug. Der Blick, den sie mir zuwarf, verriet, wie gekränkt sie war. Noch nie hatte sie mich so angesehen. Ich begriff, dass die Nabelschnur zwischen uns gerissen und die Frau, die früher alles für mich war – Mutter, Schwester, Verbündete, gute Fee, Freundin und Vertraute –, nur noch einen Fremden in mir sah.
19 .
DER WINTER 1960 WAR HART , so hart, dass unsere Gebete vor Kälte klirrten. Nicht genug, dass das Grau ringsum in unsere Gedanken einfiel, dicke Wolken taten ein Übriges und warfen sich wie Falken der Sonne entgegen. Verschlangen vor unseren Augen die wenigen Strahlen, die unseren erstarrten Seelen ein wenig Licht bringen sollten. In der Luft lagen Sorge und Qual, die Menschen machten sich keine Illusionen mehr. Der Krieg hatte seine Berufung entdeckt, und die Friedhöfe witterten Morgenluft.
Das Leben zu Hause wurde immer problematischer. Germaines Schweigen setzte mir zu. Es missfiel mir, wie sie an mir vorüberging, ohne mich anzusehen, mit mir am selben Tisch aß und die Augen nicht von ihrem Teller hob, wartete, bis ich fertig war, um abzuräumen und sich dann wortlos in ihr Zimmer zurückzuziehen. Es machte mich unglücklich, aber gleichzeitig verspürte ich kein Bedürfnis, mich mit ihr auszusöhnen. Ich hatte gar nicht die Kraft dazu. Alles ermüdete mich, ich konnte mich zu nichts aufraffen. Ich wollte nicht zur Vernunft gebracht werden, es war mir egal, ob ich im Unrecht war. Ich wollte weiter nichts als mich im dunklen Eck verkriechen, wollte nicht über das nachdenken, was ich tun sollte, nicht grübeln über das, was ich getan hatte, mich nicht fragen, ob ich gut oder schlecht, richtig oder falsch gehandelt hatte. Ich war so bitter wie die Wurzel eines Oleanderstrauchs, zugleich mürrisch und wütend auf etwas, das ich nicht zu definieren vermochte. Hin und wie derexplodierten die obszönen Gemeinheiten Krimos in meinem Kopf, und ich ertappte mich dabei, wie ich mir für ihn die schlimmsten Misshandlungen ausdachte, dann ließ ich wieder davon ab und versuchte, meinen Kopf leer zu machen. Ich verspürte keinen Hass und verspürte auch keine Wut mehr in mir; ich fühlte nur Ekel und Überdruss.
Wenn ich mich etwas beruhigt hatte, dachte ich an meinen Onkel. Er fehlte mir nicht. Die Leerstelle, die er hinterlassen hatte, erinnerte mich jedoch an jene anderen, die mich in gewisser Hinsicht verstümmelten. Ich hatte das Gefühl, keinerlei Halt mehr zu haben, es war, als triebe ich in Zeitlupe in einer Blase dahin, der bald die Luft ausginge, als wäre ich selbst diese Blase, auf Gedeih und Verderb dem winzigsten Halm ausgeliefert. Ich musste reagieren; ich
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