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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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sie sich von der allgemeinen Heiterkeit anstecken, lächelte erst zaghaft, um dann ruckartig mitzulachen.
    Nur Hadda lachte nicht mit. Zusammengesunken saß sie da, eine winzige Person, doch von hinreißender Schönheit mit ihren großen Sirenenaugen und den reizenden Wangengrübchen. Sie wirkte bedrückt und hatte während der ganzen Zeit, die sie schon bei den anderen saß, noch keinen Laut von sich gegeben. Plötzlich streckte sie ihren Arm über den niedrigen Tisch und hielt Batoul die flache Hand hin.
    »Sag mir, was du siehst!«, bat Hadda. Ihre Stimme klang unendlich traurig.
    Batoul zögerte. Unter dem gehetzten Blick der jungen Frau ergriff sie behutsam deren kleine Hand und fuhr mit dem Fingernagel sanft über die Linien ihrer durchscheinenden Handfläche.
    »Du hast wahrhaftig die Hand einer Fee, Hadda.«
    »Sag mir, was du siehst, liebe Nachbarin. Ich muss es wissen. Ich kann nicht mehr.«
    Batoul musterte eingehend Haddas Handfläche. Ließ sich Zeit. Sagte kein Wort.
    »Siehstdu meinen Ehemann?«, drang Hadda, die es nicht mehr aushielt, in sie. »Wo ist er? Was macht er? Hat er eine andere Frau? Oder ist er tot? Ich flehe dich an, sag mir, was du siehst. Ich bin bereit, die Wahrheit anzunehmen, wie auch immer sie ausfällt.«
    Batoul seufzte tief auf; ihre Schultern sackten zusammen.
    »Ich sehe deinen Mann nirgendwo in deiner Hand, mein armes Mädchen. Ich fühle weder seine Anwesenheit noch die leiseste Spur von ihm. Entweder ist er sehr weit fort, so weit, dass er dich vergessen hat, oder er ist nicht mehr von dieser Welt. Aber er kommt mit Sicherheit nicht mehr zurück.«
    Hadda schluckte, aber sie beherrschte sich. Sie blickte der Seherin forschend in die Augen.
    »Was hält die Zukunft für mich bereit, liebe Nachbarin? Was wird aus mir werden, mit zwei kleinen Kindern, ohne Familie, ohne Stütze?«
    »Wir werden dich niemals im Stich lassen«, versprach Badra ihr.
    »Wenn mein Mann mich im Stich gelassen hat«, erwiderte Hadda, »dann wird kein anderer Rücken mich tragen. Sag mir, Batoul, was wird aus mir? Ich muss es wissen. Wer aufs Schlimmste gefasst ist, erträgt die Schicksalsschläge leichter.«
    Batoul beugte sich über die Hand ihrer Nachbarin, strich wieder und wieder mit dem Fingernagel über die sich kreuzenden Linien ihrer Hand.
    »Ich sehe viele Männer rings um dich, Hadda. Aber sehr wenig Freude. Das Glück ist deine Sache nicht. Ich sehe hier und da einen lichten Moment, der aber rasch vom Strom der Jahre verschlungen wird, ich sehe Kummer und Schatten, aber du gibst trotz allem nicht auf.«
    »Viele Männer? Werde ich mehrfach Witwe oder mehrere Male verstoßen?«
    »Das ist nicht deutlich zu erkennen. Da sind zu viele Menschen um dich herum, und zu viel Lärm. Es wirkt wie ein Traum, und doch ist es keiner. Es ist … es ist sehr seltsam. Viel leichtrede ich auch nur Unsinn … Ich bin heute nicht ganz auf der Höhe. Entschuldige …«
    Batoul stand auf und verschwand niedergedrückt hinter ihrem Vorhang.
    Meine Mutter nutzte den Abgang der Seherin, um sich ihrerseits zurückzuziehen.
    »Schämst du dich nicht, bei den Frauen herumzulungern?«, schalt sie mich flüsternd hinter dem Vorhang unseres Verschlages aus. »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass ein Junge nicht belauschen soll, was die Mütter einander erzählen? Geh auf die Straße, aber bleib in der Nähe.«
    »Die Straße ist nichts für mich.«
    »Die Gesellschaft der Frauen aber auch nicht.«
    »Die anderen werden mich wieder nur verhauen.«
    »Dann wehrst du dich eben. Du bist doch kein Mädchen. Früher oder später musst du sowieso allein zurechtkommen, und Weibergeschwätz ist das Letzte, was dir dabei hilft.«
    Ich hasste es, draußen herumzulaufen. Mein Missgeschick im Niemandsland hatte mich für immer gebrandmarkt. Ich wagte mich nur dann ins Freie, wenn ich die Umgebung gründlich abgesucht hatte, ein Auge nach vorn, eins nach hinten gerichtet, bereit, bei der kleinsten verdächtigen Bewegung auszureißen. Ich hatte eine Höllenangst vor diesen Jungs, allen voran vor diesem Daho, einem untersetzten Knaben, der so hässlich und hinterhältig wie ein Dschinn war. Er löste regelrechte Panikattacken in mir aus. Sobald er nur von weitem um die Ecke schaute, war mir, als zerspränge ich in tausend Teile. Ich wäre durch Wände gegangen, um ihm zu entkommen. Etwas Düsteres umgab ihn, er war so unberechenbar wie ein Blitzschlag. Er streifte an der Spitze eines Rudels junger Hyänen durch die Gegend, die genauso

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