Die Schuld einer Mutter
Sie sagt nicht: Das hätte jedem passieren können. Oder: Seien Sie nicht so streng mit sich. Nichts von allem, was ich jemandem in meiner Lage sagen würde.
Sie ist eine gedrungene, stämmige Frau in Parka und flachen Schuhen. Erst als sie die Jacke auszieht, sehe ich, dass ihre Oberweite sie viel fülliger wirken lässt, als sie eigentlich ist. Sie hat sich das dunkle Haar zu einem kurzen Pferdeschwanz zurückgebunden. Ein paar Strähnen sind herausgerutscht und fallen ihr ins Gesicht. Ich schätze sie auf mein Alter, siebenunddreißig. Sie trägt keinen Ehering.
Joe reicht ihr den Tee. »Darf ich bleiben?«, fragt er. »Oder möchten Sie uns getrennt befragen?«
Keiner von uns hat es jemals mit der Polizei zu tun bekommen, deswegen wirkt er ein wenig unbeholfen. »Bleiben Sie ruhig«, sagt sie freundlich. Sie zieht einen Notizblock heraus und blättert darin herum.
»Kate geht es nicht so gut«, sage ich.
»Das war zu erwarten.«
»Sie mussten einen Arzt rufen. Deswegen sind wir gegangen. Wir hatten das Gefühl, es wäre das Beste …« Ich unterbreche mich. Jetzt fühle ich mich unbeholfen. Ich erzähle ihr, was sie gar nicht zu wissen braucht. Ich versuche, ihr zu erklären, warum wir nicht drüben bei den Rivertys sind, um zu helfen.
Ich probiere einen anderen Ansatz und frage sie, ob sie schon mit der Familie gesprochen hat. »Haben Sie Kate kennengelernt?«, frage ich.
DC Aspinall schreibt in ihr Notizbuch, während sie spricht. »Ich habe Mr und Mrs Riverty heute Morgen gesehen.« Sie sagt das, ohne den Kopf zu heben. »Dann bin ich zur Schule gefahren, um mit den Lehrern zu reden und herauszufinden, bis wann Lucinda im Unterricht war. Wir versuchen, ihren Tag bis zu ihrem Verschwinden zu rekonstruieren.«
»Meine Tochter geht auf dieselbe Schule«, platze ich heraus. »Haben Sie mit ihr gesprochen? Sie heißt Sally, sie sagt, die Polizei würde …«
»Die Schülergespräche haben meine Kollegen übernommen.«
Ich habe das Gefühl, alles falsch zu machen. Ich möchte einen vernünftigen und einfühlsamen Eindruck hinterlassen. Ich will nicht wie eine fahrige, planlose Chaotin dastehen, die sich an den falschen Kleinigkeiten festbeißt.
Sie sieht mich an. »Okay, dann fangen wir mal an.«
Ich erwarte, dass sie den gestrigen Tag mit mir durchgehen und alles über Uhrzeiten, Verabredungen, Telefonate und gesendete SMS hören will. Ich erwarte, dass sie von mir alle Einzelheiten erfahren will. Deswegen bin ich ziemlich von der Rolle, als sie fragt: »Was für eine Mutter ist Kate Ihrer Meinung nach?«
»Wie bitte?«, stammele ich. »Ich verstehe nicht.«
»Kate«, wiederholt sie. »Was für eine Mutter ist sie Ihrer Meinung nach?«
Und ohne zu zögern, antworte ich: »Sie ist perfekt. Sie ist die beste Mutter, die man sich wünschen kann.«
Ich denke an die gesundheitlichen Probleme von Fergus, ihrem Siebenjährigen. »Ihr Sohn ist krank, seit ich denken kann«, sage ich. »Er hatte irgendein Augenproblem, das nicht in den Griff zu bekommen war. Ich hätte aufgegeben und wäre total überfordert gewesen, aber Kate ist einfach mit ihm nach London gefahren. Sie hat es ihm als Abenteuer verkauft, die Fachärzte aufzusuchen. Sie hat dafür gesorgt, dass Fergus sich auf die Fahrten freut.«
Ich erinnere mich daran, wie Kate Fergus erlaubte, sich als Superheld oder Ritter oder Krieger zu verkleiden. Sie malte Schatzkarten und dachte sich Spiele und Aufgaben aus, die sie im Zug zusammen lösen mussten. Kein einziges Mal hörte ich sie über den Aufwand klagen. Sie vermittelte mir kein einziges Mal den Eindruck, es wäre Arbeit.
Ich betrachte DC Aspinall. »Kate ist die Art von Mutter, die man sein möchte, die Mutter, die man selbst gern gehabt hätte.«
»Was ist mit Mr Riverty?«, fragt sie. »Würden Sie ihn ebenfalls als vorbildlichen Elternteil bezeichnen?«
»Natürlich.«
Sie hält meinem Blick stand, bevor sie wieder in ihrem Notizbuch blättert.
Ich werfe Joe einen verstohlenen Blick zu, und er zieht die Augenbrauen hoch. Er denkt dasselbe wie ich – dass sie Guy möglicherweise verdächtigt. Was einfach nur lächerlich ist.
So gut kenne ich Guy eigentlich gar nicht. Abgesehen von jenem Abend, als wir zum Dinner drüben waren, verabreden wir uns für gewöhnlich nicht zu Pärchentreffen. Sie wissen schon, wie ich das meine – wenn die Männer sich zusammensetzen und über Männerthemen reden und die Frauen in der Küche stehen und sich darüber beschweren, wie wenig die Männer im
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