Die Schuld einer Mutter
nicht gedacht?«
Zögerlich sagte sie: »Meine Schwester hat dich in die Enge getrieben. Sie hat dich den ganzen Abend lang beleidigt und kleingemacht, und dasselbe hat sie mit ihrem Ehemann gemacht – und dann habt ihr einander getröstet.«
Ich starrte sie an, verwundert über die nüchterne Art, mit der sie über den Zwischenfall sprach.
»Warum hast du uns nicht bloßgestellt?«
»Weil ich nicht mitansehen will, wie einer von euch zerstört, was er sich aufgebaut hat – nur für einen schwachen Moment. Es wäre falsch, wegen einer Indiskretion zwei Familien auseinanderzureißen. So etwas hätte mir doch gar nicht zugestanden … Wenn du und Adam entschieden hättet, euch selbst zu outen, dann wäre das eure Sache gewesen. Aber ich wollte euch nicht das Gefühl geben, ihr müsstet es meinetwegen tun.«
Damit wandte sie sich wieder den Schwimmern zu. Ich brachte nur ein geistloses »Danke« heraus. Und dann redeten wir nie wieder davon.
Nun werfe ich einen Blick auf die Küchenuhr und sehe, dass es schon nach neun Uhr ist. Ich greife zum Telefon und versuche es ein letztes Mal bei Kate. Endlich antwortet sie. Sie erzählt mir, sie sei zu Booths gefahren, um für das Abendessen einzukaufen.
»Zu Booths?«, frage ich. »Du bist einkaufen gegangen? Heute?«
»Ja, Lisa. Wir müssen trotzdem essen.«
»Natürlich«, murmele ich. »Ich hätte euch etwas bringen sollen«, füge ich hinzu, und es klingt genauso lächerlich und hilflos, wie es ist. Kate geht kommentarlos darüber hinweg, so als hätte ich sie nicht auf jede erdenkliche Weise enttäuscht. Außerdem, was hätte ich ihr schon anzubieten? Chicken Nuggets? Nie im Leben würde Kate ihrer Familie so einen Müll zu essen geben, nicht einmal unter diesen Umständen.
Ich atme durch. »Kate, du solltest dich auf etwas gefasst machen«, sage ich zögerlich, und als sie nicht antwortet, taste ich mich weiter vor. Ich will es hinter mich bringen. »Sally hat uns eben erzählt, dass sie glaubt, Lucinda könnte mit jemandem durchgebrannt sein. Mit jemandem, der älter ist. Mit einem Mann.«
Sie sagt immer noch nichts.
»Kate, bist du noch da?«
»Ich bin hier«, sagt sie, und ganz deutlich höre ich die Angst in ihrer Stimme.
»Ich habe die Frau von der Kripo angerufen und eine Nachricht hinterlassen und ihr gesagt, was Sally erzählt hat. Vermutlich hat sie schon versucht, dich zu erreichen.«
»Ja«, ist alles, was sie sagt.
Ich stelle mir vor, wie Kate in ihrem wunderschön dekorierten Flur am Telefontischchen steht. Die Familienporträts, die Lucinda und Fergus in zunehmendem Alter zeigen, je höher man auf der Treppe steht. Ich stelle mir vor, wie sie die Bilder anstarrt, ich höre mich selbst reden und fühle mich, als würde ich ihr mit meinen Händen die Eingeweide herausreißen.
»Es tut mir so leid, Kate. Mein Gott, wir als Familie haben dich so bitter enttäuscht. Ich kann dir gar nicht sagen, wie schlecht es mir damit geht, und wie sehr ich mir wünsche, ich könnte irgendwas tun.«
Ich höre Kate einatmen. »Warum hat Sally nicht früher etwas gesagt?«
»Sie hatte Angst. Sie hatte Angst, dass sie alles nur noch schlimmer machen würde. Lucinda hat ihr das Versprechen abgenommen, niemandem etwas zu sagen. Es tut ihr so leid, Kate. Ich habe ihr eine Standpauke gehalten deswegen, das kannst du dir ja vorstellen, auch wenn es nun ein bisschen spät kommt.«
»Sei nicht so streng zu ihr … Ich … ich glaube, ich habe mir schon so etwas gedacht.«
Leise frage ich: »Wirklich? Warum?«
»Ich bin mir nicht sicher. Manchmal hat man doch einfach so eine Ahnung, oder? Man spürt, dass etwas nicht stimmt, dass etwas im Busch ist. Ich habe sie ein paarmal gefragt, ob es ihr gut geht, aber ich war nicht hartnäckig genug …«
»Das bringt bei den Mädchen auch nichts … je hartnäckiger man bohrt, desto schneller machen sie dicht.«
Sie pflichtet mir bei. »Ich habe wohl darauf gewartet, dass sie mir freiwillig erzählt, was Sache ist« – bei der Erinnerung fängt ihre Stimme zu zittern an –, »o Gott … Lucinda und ich sind die besten Freundinnen , Lisa. Ich hätte nicht warten dürfen, oder? Wäre es Fergus gewesen, ich hätte mich mit ihm hingesetzt und ihn gezwungen, mir die Wahrheit zu sagen. O Gott!«, weint sie.
»Kate? Bist du allein? Soll ich vorbeikommen?«
»Nein«, antwortet sie. »Guy ist hier. Er beteiligt sich nicht mehr an der Suche. Er hält es nicht aus. Er hat Angst. Er fürchtet, derjenige zu sein, der sie findet.
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