Die Schuld einer Mutter
noch alle seine Milchzähne, die zu Stummeln abgekaut sind. »Mummy«, sagt er, ohne die Augen zu öffnen, »kennst du Fahrpläne auswendig?«
»Manche«, sage ich, drücke ihn und küsse ihn auf die Wange. Er hat immer noch die empfindliche Haut eines Kleinkinds. Als ich ihn zu grob knuddele, macht er sich los.
Ich gehe zu Sally hinüber. Sie liegt auf der Seite, mit dem Rücken zur Tür und immer noch vollständig bekleidet. Ihr Gesicht ist tränenüberströmt, und sie sieht aus wie die Verzweiflung in Person.
»Komm, Sally, du musst jetzt schlafen.«
Sie nickt, ohne sich zu bewegen.
»Mummy, ich habe solche Angst«, sagt sie. Ich sage ihr, dass ich das weiß, und nehme sie in den Arm.
Als sie sich beruhigt hat, gehe ich nach unten und versuche es noch einmal bei Kate, aber immer noch geht niemand ans Telefon. Ich denke an unsere Unterhaltung vom Nachmittag und versuche mich zu erinnern, ob sie Pläne für den Abend hatte. Und wieder überkommt mich große Bewunderung für ihre Art.
Wie ist es nur möglich, unter diesen Umständen keinen Sündenbock zu suchen? Woher nimmt sie die Kraft, mich nicht nur in ihrem Haus zu ertragen, sondern mir auch noch zu versichern, ich trage keine Schuld an Lucindas Verschwinden?
Nicht zum ersten Mal bekomme ich einen Einblick in Kates Seele und begreife, wie tief ihr Verständnis ist. Nicht zum ersten Mal lässt sie alle anderen dastehen wie Neandertaler.
Wir haben nie wieder darüber gesprochen, Kate und ich. Wir haben nie wieder darüber gesprochen, dass sie mich mit ihrem Schwager Adam im Badezimmer erwischt hat, auf dem Fußboden, nach der Dinnerparty.
Sie hat mich nie wieder darauf angesprochen, hat nie nach einer Erklärung verlangt.
Dabei hatte ich es ihr anfangs wirklich erklären wollen.
Anfangs dachte ich, es würde mich umbringen, nicht beichten zu können. Irgendetwas musste ich ihr doch sagen, ich musste irgendwie erklären, wie es zu dieser Situation gekommen war. Aber wann immer ich allein mit ihr war und Anstalten machte, die Sache anzusprechen, wich sie mir aus. Anders kann ich es nicht beschreiben: Sie wich jedem meiner Versuche aus, mich für mein Handeln zu rechtfertigen.
Und im Laufe der Zeit gab ich es auf. Während die Monate verstrichen, begriff ich, dass weder sie noch Adam Interesse daran hatten, das Thema jemals wieder aufzubringen, und ich lernte, es so zu vergraben und zu verdrängen wie sie. Ich fing Schwingungen von Kate auf, die mir zu sagen schienen: Lass es einfach gut sein.
Was mir, anders als ihnen, sehr schwerfiel. Die Schuldgefühle und die Scham kochten immer wieder in mir hoch.
Joe ahnte, dass etwas nicht stimmte, aber er schob es auf meine Erschöpfung. Ich war mehr als einmal kurz davor, ihm alles zu gestehen. Aber immer, wenn ich glaubte, es keine Sekunde länger aushalten zu können und alles beichten zu müssen, hielt ich mich in letzter Sekunde dann doch zurück.
Ich würde mir gern einreden, ich hätte eine zu große Angst davor, unsere Ehe zu zerstören, und sicherlich entspricht das in Teilen auch der Wahrheit. Aber ehrlich gesagt bin ich einfach nur feige – ich bin feige und werde gedeckt von einer Freundin, die aus mir unbekannten Gründen beschlossen hat, mich nicht zu verpfeifen.
Nur ein Mal redete ich mit Kate. Es war vor einem Jahr, und Kate und ich waren bei der Weihnachtsfeier des Schwimmvereins. Ich weiß auch nicht mehr, welcher Teufel mich ritt, aber auf einmal hatte ich mich nicht mehr im Griff.
Der Lärm auf der Tribüne war ohrenbetäubend. Kate und ich saßen zwischen den anderen Eltern und feuerten unsere Sechsjährigen nach Leibeskräften an. Die Kinder standen mit riesigen Schwimmbrillen und dünnen, von der klammen Kälte fast bläulich verfärbten Armen und Beinen am Beckenrand.
Ich drehte mich zu Kate um. »Warum hast du Alexa nie verraten, was passiert ist?«
»Was ist denn passiert?«
»Du weißt schon«, sagte ich ausweichend. »Der Abend, an dem Joe und ich zum Essen da waren. Als du ins Bad gekommen bist und mich und Adam gesehen hast.« Kate zog ein ernstes Gesicht, ohne den Blick vom Schwimmbecken zu nehmen. »Wann immer ich mit dir darüber sprechen möchte, weichst du mir aus.« Ich redete ein bisschen leiser und beugte mich vor, um ihr ins Ohr zu flüstern. »Was musst du nur über mich gedacht haben, Kate?«
Über den Lärm hinweg sagte sie nur: »Ich habe mir gedacht, dass du wohl sehr einsam bist.«
»Das war alles?«
Sie legte den Kopf schief.
»Das war alles? Mehr hast du
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