Die Schuld einer Mutter
nicht genau. Mehr als zwei, hat sie gesagt.«
»Das ist immer ein schlechtes Zeichen«, sagt Lorna.
Zuerst denke ich, ich habe mich in der Adresse geirrt. Ich stehe vor einer alten Villa, die zu einem Mietshaus umgebaut wurde. Nicht die typische Art von Behausung, um verwilderte Katzen abzuholen. Ich werfe sicherheitshalber einen Blick auf den Zettel: Appartement sechs, Helm Priory, Bowness. Ja, das ist es.
Der Gehsteig ist geräumt, und ich öffne die Heckklappe meines Autos und hole drei Katzenkörbe heraus. In einer der Erdgeschosswohnungen steht eine Frau am Fenster und beobachtet mich. Sie ist jung, Mitte zwanzig, und wirkt ein bisschen müde.
Ich ziehe die Schutzhandschuhe aus der Tasche hinter dem Fahrersitz und stecke nach kurzem Nachdenken auch noch eine Atemmaske ein, nur für alle Fälle. Ich kaufe die Masken immer in einem Laden für Malereibedarf in Kendal. Wie sich herausgestellt hat, sind das die besten. Wenn sie vor dem Gestank von giftigen Lacken schützen, schützen sie auch vor Katzendreck. In all den Jahren, die ich diesen Job mache, ist das das Einzige, woran ich mich nie gewöhnen konnte.
Ich lächle der Frau zu, als ich mich dem Haus nähere, aber sie senkt den Blick. Sie zieht die Ellbogen übertrieben hoch, wie um mir zu zeigen, dass sie gerade beim Abwasch ist. Sie sieht aus wie eine Polin.
Eine Zeitlang waren sie in dieser Gegend überall zu sehen, die Polinnen. Dünne, freundliche Mädchen, alle ähnlich gekleidet. Alle mit etwas zu kurzen schwarzen Röcken und karamellfarbenen Strümpfen, eine Farbe, die meine Mutter als junge Frau getragen hätte.
Ich drücke gegen die Haustür und stehe in einem Vorraum mit Briefkästen. Die Tür dahinter ist abgeschlossen. Ich versuche es mit dem größten Schlüssel an dem Bund, den das Mädchen mir überlassen hat. Erleichtert stelle ich fest, dass die Tür sich mühelos öffnen lässt.
Die Eingangshalle ist imposant und wie im Hotel mit weichem Teppichboden ausgelegt. Am Kopf der Treppe sehe ich ein riesiges Bleiglasfenster, durch das das Sonnenlicht in allen Spektralfarben einfällt. Der Raumerfrischer in der Steckdose gibt einen dezenten Jasminduft in die Luft ab, und zum zweiten Mal innerhalb von fünf Minuten glaube ich, mich in der Adresse geirrt zu haben. Es ist einfach viel zu schön hier.
Das Appartement sechs muss im Obergeschoss liegen. Vorsichtig steige ich die Treppe hinauf, um nicht mit den Katzenkörben an die frisch gestrichenen Wände zu stoßen. Am Kopf der zweiten Treppe befinden sich zwei Türen. Nach rechts geht es zu Wohnung fünf, deren Eingang von zwei penibel geschnittenen Bäumchen gesäumt wird. Dazwischen liegt eine hübsche rote Fußmatte mit dem Spruch »Herzlich willkommen«.
Ich schaue nach links. Vor Appartement sechs steht eine vertrocknete Topfpflanze, in deren Erde unzählige Zigarettenkippen und die Überreste von Joints stecken. Nun kommen wir der Sache schon näher, denke ich und stecke den Schlüssel ins Schloss.
Ich öffne die Tür, und sofort schlägt mir ein beißender Gestank entgegen. Ich setze die Maske auf. Ich taste nach dem Lichtschalter und betätige ihn, aber nichts passiert. Der Strom ist abgestellt. Leise fluchend erinnere ich mich daran, dass ich keine Taschenlampe dabeihabe. Der Flur ist dunkel; die Türen, die nach rechts und links abgehen, sind allesamt geschlossen.
Ich spiele kurz mit dem Gedanken, trotzdem hineinzugehen, allein, um es schnell hinter mich zu bringen, aber dann zögere ich. Vor zwei Jahren sollte ich einen halb verhungerten Hund aus einem Haus in Troutbeck Bridge holen. Das arme Geschöpf winselte so laut, dass ich ohne nachzudenken ins Haus lief – und prompt in eine Spritze trat. Deren Nadel, ob Sie es glauben oder nicht, direkt durch die Sohle meiner Turnschuhe in meinen Fuß stach. Ich lebte die folgenden sechs Monate in der Überzeugung, HIV-positiv zu sein. Eine Erfahrung, die ich nicht noch einmal machen möchte.
Ich stelle die Tragekörbe vor der Wohnung ab und lege die Schutzhandschuhe darauf, ziehe mir die Maske vom Gesicht und klopfe bei Appartement fünf an. Niemand macht auf, deswegen steige ich die Treppe wieder hinunter und gehe zu der Erdgeschosswohnung, in der ich die junge Frau gesehen habe.
Ich klopfe vorsichtig an. Sie öffnet die Tür sofort, nur wenige Zentimeter weit, und beäugt mich misstrauisch. »Hi, ich komme vom Tierheim und …«
»Ich habe kein Geld«, sagt sie mit schwerem Akzent.
»Nein, ich will kein Geld. Ich brauche eine
Weitere Kostenlose Bücher