Die Schuld einer Mutter
Taschenlampe.«
»Eine Taschenlampe? Aber es ist hell.«
Ich zeige nach oben. »Der Mann aus Nummer sechs liegt im Krankenhaus, und ich bin gekommen, seine Katzen abzuholen.« Ich merke, dass ich unwillkürlich ihren Akzent imitiere.
»Warten Sie, ich schaue.«
Sie macht die Tür wieder zu.
Als sie eine Minute später zurückkommt, hat sie ein Kleinkind auf der Hüfte. Einen pummeligen, süßen blonden Jungen von etwa einem Jahr. Nie im Leben käme man darauf, die beiden für Mutter und Sohn zu halten. Ich strecke die Hand aus, um ihm über das Haar zu streichen, ein Reflex, seit ich selber Mutter bin, und sage: »Der ist aber niedlich. Wie heißt er denn?«
»Nika.«
»Wie hübsch … ist das Polnisch?«
»Nein, Georgisch.«
Sie überreicht mir die Taschenlampe, eine kleine schwarz-gelbe von Stanley, und wie immer beim Anblick dieses Markennamens werde ich zurückgeschleudert in jenen Moment, als die Ehefrau meines Vaters sich in unserem Wohnzimmer mit einem Stanley-Messer die Pulsadern aufschnitt.
»Draußen hinlegen«, sagt die Frau, und ich werfe ihr einen verwirrten Blick zu.
»Legen Sie es draußen hin, vor die Tür, wenn Sie fertig sind«, und ich sage: »Ach so, ja, mache ich.«
Ich stehe auf der Schwelle zur Küche und atme langsam und zittrig ein.
Mehr als zwei, hat die Frau gesagt. Bis jetzt habe ich schon mindestens vier Katzen gesichtet, und im Küchenschrank unter der Spüle scheint sich ein Wurf Jungtiere zu befinden. Ich höre ihr klägliches Miauen. Ehrlich gesagt wäre das hier eigentlich ein Job für die RSPCA. In Momenten wie diesem greife ich normalerweise zum Handy und rufe den Tierarzt, damit er den Tatbestand der Tierquälerei aufnimmt. Er sammelt die nötigen Beweise, um ein Verfahren einzuleiten. Aber das nimmt zu viel Zeit in Anspruch. Außerdem liegt der Tierhalter im Krankenhaus und kommt wahrscheinlich nicht wieder heraus, nach allem, was die Tochter sagte. Das Ganze ist sinnlos.
Ich beschließe, zuerst alle Katzen in der Küche einzufangen, bevor ich mich um den Rest der Wohnung kümmere. Eins nach dem anderen, sonst wird es mir zu viel.
Die Katzen sind ziemlich verwildert. Sie sind nur noch Haut und Knochen und wehren sich nach Leibeskräften. Ich fange ein Weibchen ein, eine räudige Schildpattkatze mit drei weißen Pfoten, und spüre ihren trächtigen Bauch.
Erlaubt man ihr, sich ungehindert fortzupflanzen, kann eine einzige Katze, deren Junge sich ebenfalls ungehindert fortpflanzen, bis zu zwanzigtausend Nachkommen haben. Deswegen geht ein Großteil unserer Einnahmen für Sterilisationen drauf. Wir wollen Situationen wie diese vermeiden. Wenn alle Tierhalter ihre Haustiere im Alter von sechs Monaten sterilisieren lassen würden, anstatt ihnen »den Spaß wenigstens einmal zu gönnen«, hätten wir das Problem der ungewollten Welpen und Kätzchen gelöst. Natürlich hätten wir immer noch genug zu tun mit den Tieren all jener, die der Meinung sind, Kastration und Sterilisation wären ein Akt wider die Natur. Wobei ich denke, dass diese Leute sich einfach anderweitig orientieren und sich ein neues Hobby suchen würden. Hahnenkampf vielleicht. Oder sie verprügeln ihre Frauen.
Ich gehe immer wieder in die Wohnung zurück und stecke jeweils zwei Katzen in einen Tragekorb. Zuletzt kümmere ich mich um den Spülenschrank. Vermutlich war der Bewohner dieser Wohnung Trinker, denn obwohl das Appartement total verwahrlost ist, sehe ich nirgendwo Lebensmittel. Nichts als leere Verpackungen. Ich stoße ein Dankgebet aus, denn ich glaube, ich wäre nicht in der Lage gewesen, heute mit verschimmelten Lebensmittelresten und verfaultem Fleisch zurechtzukommen.
Auf der Arbeitsplatte entdecke ich fast sechzig leere Bierdosen, dazu unzählige Ginflaschen. Die Marke kenne ich nicht, deswegen nehme ich eine Flasche in die Hand und lese mir das Etikett auf der Rückseite durch. Hergestellt für Aldi, steht da. Ich stelle mir vor, wie der Trinker seinen Einkaufswagen voller Gin durch den Supermarkt schiebt. Er ist so mager wie seine Katzen, mit gelbem Augenweiß und jenem schlaffen Kinn, das alle Alkoholiker zu entwickeln scheinen. Wieder höre ich ein schwaches, ersticktes Miauen aus dem Schrank unter der Spüle. Ich öffne ihn.
In einem Schuhkarton liegen fünf Kätzchen. Eines ist gestorben, die anderen vier sind kurz davor.
Ich sehe Flöhe springen. Die Tiere sind von oben bis unten voll davon.
Die Flöhe haben ihnen so viel Blut ausgesaugt, dass ich sie nur mit viel Glück werde
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