Die Schuld einer Mutter
verdreht die Augen. Ach wirklich, Lise?
»Seine Frau wird kaum erfreut sein, davon zu erfahren«, sagt meine Mutter.
»Sie hat heute Morgen versucht, sich mit Tabletten umzubringen. Ich habe sie gefunden.«
Meine Mutter schnappt nach Luft. Nach einer Sekunde sagt sie: »Nun ja, dann stimmt es wohl.«
»Was stimmt?«
»Dass er seine eigene Tochter verschleppt hat. Warum würde sie sonst versuchen, sich umzubringen?«
»Vielleicht weil gestern noch ein Kind verschwunden ist? Vielleicht weil sie fürchtet, dass ihre Tochter nicht zurückkommt?« Ich klinge schroff. »Du solltest nicht so schnell dabei sein, über andere zu urteilen, Mum.«
»Sie würde doch ihren Sohn nicht als Halbwaisen zurücklassen«, sagt meine Mutter pikiert.
»Woher willst du das wissen? Woher sollte irgendjemand das wissen?«
»So ist es einfach.«
»Ich weiß, dass ich das niemals tun würde, aber ich kann nicht wissen, was sie tut, und du auch nicht. Ehrlich gesagt ist Klatsch im Moment das Letzte, was ich gebrauchen kann.«
»Warum hast du sie gefunden und nicht ihr Ehemann?«, fragt sie.
Ich überlege. Zögerlich erzähle ich die Wahrheit. »Weil er nicht da war.«
»Wo war er denn?«
»Das weiß ich nicht.«
Meine Mutter schnauft. »Tja, wenn du meine Meinung hören willst … Ich an deiner Stelle würde mich von dem Haus fernhalten. Und schon gar nicht würde ich mich allein dorthin wagen. Wer weiß, was die zu verbergen haben.« Als ich darauf nichts antworte, fügt sie hinzu: »Marjorie sagt ohnehin, dass dieser Guy Riverty unhöflich und arrogant ist.«
»Marjorie ist unhöflich und arrogant.«
»Ich lege jetzt auf.«
Sie wirft den Hörer auf die Gabel, und ich mache die Augen zu. Ich kann nicht mehr klar denken, kann meine Gedanken nicht mehr in separate, überschaubare Portionen einteilen. Es ist einfach unmöglich.
Kate hat eine Überdosis genommen.
Guy wurde verhaftet.
Lucinda ist immer noch verschwunden.
31
D C Joanne Aspinall nimmt sich einen Moment, um sich zu sammeln. Dann betritt sie den Verhörraum mit ausdrucksloser Miene und professionell-gelassener Haltung. DC Colin Cunningham hat bereits mit Guy Riverty am Tisch Platz genommen, aber Joanne ist diejenige, die das Verhör leiten wird.
Sie setzt sich Guy gegenüber und zupft sich genervt den linken BH-Träger zurecht. Er sitzt direkt über einer bereits aufgescheuerten Stelle und schneidet ihr schmerzhaft in die Schulter.
Sie befürchtet, ihrer beruflichen Autorität damit geschadet zu haben, und tatsächlich: Während sie mit dem rechten Zeigefinger unter dem Stoff nach dem Träger angelt, sieht sie einen Schatten des Ekels über Guy Rivertys Gesicht huschen. Betreten schaut er beiseite.
Joanne ist kurz davor, seine Abneigung persönlich zu nehmen, erinnert sich aber daran, dass Guy Riverty ihren Anblick natürlich abstoßend finden muss. Er mag dünne Mädchen. Dünn und nicht älter als dreizehn Jahre.
Zum ersten Mal seit Beginn der Ermittlungen fragt Joanne sich, ob es Zufall sein kann, dass seine Frau Kate so mager ist und eine knabenhafte Figur hat.
Joanne breitet ihre Unterlagen vor sich aus und muss ein Lächeln unterdrücken. Sie erinnert sich an einen bösen Witz über Victoria Beckham, den sie neulich gehört hat und der ungefähr so ging: »Victoria ist so dünn, dass sie niemals in zu heißes Badewasser steigen darf, sonst läuft sie ein.«
Guy Riverty lehnt sich zurück. Er hat einen Fuß auf das andere Knie gelegt und gibt sein Bestes, gereizt und gelangweilt auszusehen.
Die Mähne hat er sich aus dem Gesicht gestrichen, sodass sie nun zu einer Seite hängt. Eine Schönlingsfrisur, für die er eigentlich zu alt ist, die aber, wie Joanne sich vorstellen kann, auf manche Frauen immer noch anziehend wirkt.
Er trägt dieselben Klamotten, in denen Joanne ihn am Morgen gesehen hat: cremeweiße Cordhose und schwarzer Feinstrick-Rollkragenpullover, dazu schwarze Stiefeletten. Seine Jacke hat er über die Rückenlehne des Stuhls gehängt. Sähe er nicht so zerzaust und übernächtigt aus, würde er glatt als Simon Templar durchgehen. Joannes Blick bleibt an einem roten, klebrigen Fleck an seinem rechten Oberschenkel hängen. Bei dem Anblick wird ihr unwohl.
Noch vor zwei Tagen, als Joanne ihn zum ersten Mal sah, ist Guy vollkommen anders aufgetreten. Da war er ein nervöser, verschreckter, aber hilfsbereiter Familienvater. Der alles darum gegeben hätte, seine Tochter zurückzubekommen. Vor zwei Tagen hatte Joanne das Gefühl, der Mann
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