Die Schuld einer Mutter
werde in der Rechtsmedizin anrufen und fragen, ob die sofort einen Kollegen zu Ihnen rüberschicken können. Möglicherweise dauert es jedoch eine Weile … bis wann sind Sie da?«
»Rechtsmedizin?«, keucht Lisa.
»Ja.«
»Ich werde warten, solange es sein muss. Mein Ehemann passt heute auf die Kinder auf, weil ich so einiges aufzuarbeiten habe, und …«
»Ich rufe Sie an, falls ich noch etwas wissen muss, ansonsten wäre es das fürs Erste.«
»Detective?«
»Hmm?«
»Ist Guy Riverty immer noch bei Ihnen?«
Joanne will sagen, ja, wir verhören ihn noch, aber stattdessen fragt sie: »Warum fragen Sie?«
»Es ist so …«, und dann bricht Lisa ab, als wollte sie eigentlich nicht weitersprechen. Schließlich sagt sie: »Da stimmt etwas nicht.«
»Mit wem?«
»Mit allen«, platzt sie heraus. »Ich habe da wirklich ein ungutes Gefühl. Ich habe das Gefühl, dass sie etwas zu verbergen haben. Alle miteinander – Kate, Guy und Kates Schwester Alexa. Die benehmen sich seltsam, gar nicht so, wie es unter diesen Umständen zu erwarten wäre.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich kann es nicht erklären. Aber heute Morgen hat Fergus mir etwas erzählt. Er sagte, seine Mutter würde sich aufregen, wenn sein Vater nicht nach Hause kommt, und ich hatte den Eindruck, das ist keine Ausnahme. Das kommt regelmäßig vor. Ist doch seltsam, oder?«
Beim Auflegen denkt Joanne: Ja, das ist tatsächlich seltsam. Sie würde ihrem Mann den Kopf abreißen, wenn er einfach so über Nacht verschwinden würde. Andererseits ist sie nicht einmal verheiratet und kann gar nicht wissen, was sie tun würde. Frauen lassen sich alles Mögliche gefallen, was sie zu Anfang einer Beziehung nie geduldet hätten. Warum sollte sie da eine Ausnahme bilden?
Joanne stößt die Tür zum Verhörraum auf. Sie hat sich schon gefasst gemacht auf den Schwall von Beleidigungen, den Guy Riverty ihr zweifellos entgegenschleudern wird. Er sitzt seit über einer Stunde hier fest und kocht wahrscheinlich vor Wut.
Aber als sie eintritt, zuckt sie erst einmal zusammen, so sehr erschreckt sie der Anblick.
Guy sitzt zusammengesackt am Tisch. Er hat die Körperhaltung eines Mannes, der sich aufgegeben hat. Joanne räuspert sich, um etwas zu sagen, und er hebt den Kopf. Rotze und Speichel laufen ihm über das Kinn.
Er weint wie ein kleines Kind. Er schämt sich nicht, seine Gefühle zu zeigen. Er sieht sie traurig an und sagt: »Ich habe eine Frau.«
»Ich weiß«, sagt Joanne betreten. »Sie wird wieder gesund, Mr Riverty. Ihre Frau wird es überstehen.«
Da schüttelt er den Kopf. Er wischt sich die Nase am Ärmel ab und hinterlässt eine silbrige Schleimspur auf dem edlen schwarzen Feinstrick.
»Ich habe noch eine Frau«, sagt er, ohne den Blick von Joanne abzuwenden. »Eine zweite Frau – und einen Sohn. Einen kleinen Jungen.«
Joanne sieht ihn ungläubig an. Mit so etwas hätte sie nie und nimmer gerechnet.
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W eiß Mrs Riverty darüber Bescheid?« Dann fügt sie schnell hinzu: »Kate Riverty, meine ich natürlich.«
»Ja.«
»Eine vertrackte Lage.«
Er seufzt.
»Warum bleibt sie trotzdem bei Ihnen?« Eine höchst unprofessionelle Frage, die nichts mit dem zu tun hat, was Joanne jetzt eigentlich fragen sollte, die sich aber keine Frau in diesem Moment verkneifen könnte.
»Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Ich wünschte, sie würde in die Scheidung einwilligen, aber sie weigert sich beharrlich. Ich habe unzählige Male versucht, sie davon zu überzeugen, dass eine Trennung das Beste wäre.«
Joanne ist sprachlos.
»Lieber will sie teilen?« Sie klingt fassungsloser, als sie wollte. Irgendwie ist sie weniger irritiert davon, dass Kate Riverty bereit ist, sich einen Mann mit einer anderen Frau zu teilen, als davon, sich einen Mann wie ihn zu teilen. Als wäre Guy Riverty ein Hauptgewinn, dessen Qualitäten sich Joanne partout nicht erschließen wollen.
Die Kränkung ist ihm vom Gesicht abzulesen.
Er sagt: »Es ist noch viel komplizierter, als Sie denken«, und Joanne, die jetzt erst bemerkt, dass sie immer noch steht, zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich.
Instinktiv wendet sie den Blick nicht mehr von Guy Riverty ab. Sie versucht zu ergründen, warum eine vernünftige Frau sich selbst und ihrer Familie so etwas zumutet.
Warum jagt sie ihn nicht einfach zum Teufel? Oder zu seiner neuen Frau?
Warum tut sie nicht, was jede normale Frau tun würde? Warum setzt sie ihn nicht einfach vor die Tür, wirft seine Klamotten aus dem Fenster,
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