Die Schuld einer Mutter
Fahrt überschlagen sich meine Gedanken. Ich möchte Radio hören, empfange in dieser Gegend aber keinen anderen Sender als Radio 2 . Aber weil ich das dumme Gequatsche der Zuhörer nicht ertragen kann, die Jeremy Vine im Studio anrufen, schalte ich bald ab.
Mein Auspuff röhrt lauter als je zuvor, und als ich aufs Gaspedal trete, erschrecke ich eine junge Mutter fast zu Tode, die mit einem Kinderwagen an der Ampel steht und wartet. Beim Blick in den Rückspiegel sehe ich, dass sie mir wütend hinterherschimpft. Hoffentlich habe ich ihr Baby nicht geweckt.
Warum nur hat Kate versucht, sich umzubringen?
Ich finde einfach keine Antwort auf diese Frage.
Ich wollte sie anschreien. Ich wollte sie schütteln, damit sie wieder zu Bewusstsein kommt und mir erklärt, was zum Teufel das sollte.
Aber ich kann nicht mehr klar denken. Mein Kopf fühlt sich an, als würde jemand Gummigeschosse darauf abfeuern, und wann immer ich einen klaren Gedanken fassen, wann immer ich ihn von Anfang bis Ende verfolgen möchte, zerplatzt er, noch bevor ich zu einem Schluss komme.
Warum hat sie nicht nach Lucinda gefragt, als sie aufgewacht ist?
Warum war sie so außer sich, als sie von Guys Verhaftung erfuhr?
Und dann kommt mir noch ein Gedanke, ein unwichtiger Gedanke, aber weil ich so wütend bin, denke ich ihn trotzdem zu Ende. Ich denke: Warum haben sich weder Kate noch Alexa oder Guy bei mir dafür bedankt, Kate das Leben gerettet zu haben?
Ich weiß, dass sie im Moment wirklich andere Sorgen haben. Trotzdem hätte ich mir gewünscht, dass wenigstens einer von ihnen sagt: »Gott sei Dank warst du da, Lisa.«
Aber nein. Nichts dergleichen.
Meine Knöchel sind schneeweiß, und meine Finger spannen sich um das Lenkrad, und ich sage zu mir selbst: Okay, hör auf. Sei einfach froh, dass Bluey wieder da ist. Immerhin das hat der heutige Tag gebracht.
Bluey ist wieder da, und ich habe beschlossen, ihn mit nach Hause zu nehmen. Er soll bei uns leben.
34
J oanne sitzt mit vier anderen Detectives im Besprechungsraum und wartet auf DI McAleese. Das Zimmer mit der verglasten Längsseite wurde letztes Jahr eingerichtet, kurz nachdem einer der dienstältesten Polizisten in Cumbria, DS Russ Holloway, an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben war.
In einer Ecke hängt ein Foto von Russ, das ihn an seinem ersten Tag im Dienst zeigt, und darunter eine kleine Plakette. Joanne betrachtet sie und erinnert sich daran, wie sie auf die Bremse getreten war, weil Russ sich über Bauchschmerzen beklagt hatte, zum dritten Mal innerhalb von einer Woche. Joanne hatte sich geweigert weiterzufahren, solange er nicht seinen Hausarzt anrief und einen Termin vereinbarte. Und dann war es zu spät gewesen. Unglaublicherweise war er keine drei Wochen später tot.
McAleese tritt ein und zieht die Tür hinter sich zu. Er trägt ein dunkelrotes Hemd und dazu eine Krawatte in Kontrastfarben; das Hemd ist voller Schweißflecken, was Joanne an McAleese nie zuvor gesehen hat. Er ist ein sehr gepflegter Mann und verfügt über einen höheren Bildungsgrad als jeder andere im Raum. Er war studierter Versicherungsstatistiker und hat als Seiteneinsteiger eine Blitzkarriere bei der Kripo hingelegt. Den Rang des Detective Inspector hatte er in Rekordzeit inne.
McAleese wirkt gehetzt, was für den verantwortlichen Leiter einer Ermittlung typisch ist, für ihn selbst aber ganz und gar untypisch.
»Ich gehe also davon aus, dass die Nachricht sich schnell verbreitet hat und Sie alle erfahren haben, dass das dritte Mädchen wieder da ist?« Schnell lässt er den Blick durch den Raum schweifen, und gedämpftes Gemurmel ertönt. »Ja, Sir.« Ja, alle wissen Bescheid. »Francesca Clarke ist wieder bei ihrer Familie, wir können sie in Kürze in ihrem Elternhaus befragen. Sie ist nicht in der Lage, auf die Wache zu kommen. Sie wurde ärztlich untersucht, und wir haben, was wir brauchen.«
Bevor er weiterspricht, muss er sich räuspern. Er lockert sich die Krawatte.
»Diesmal ist unser Mann brutaler vorgegangen.« Er sagt das, als wäre es zu erwarten gewesen. »Ich erspare Ihnen fürs Erste die ekelhaften Details. Lassen Sie mich nur sagen, sie wird eine Weile brauchen, um darüber hinwegzukommen. Wir haben jemanden vom Opferschutz hingeschickt, und eine Psychologin aus Preston ist auch unterwegs. Eine Frau, die viel Erfahrung mit Vergewaltigungsopfern hat.« Er atmet resigniert aus und fügt hinzu: »Sie hat einen exzellenten Ruf«, und dann denkt er so wie die anderen im Raum,
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