Die Schuld einer Mutter
nehmen, wo das Ganze doch schon … wie lange vor sich geht?«
»Ich bin seit vier Jahren mit Nino zusammen.«
»Warum also jetzt?«
Zögerlich sagt er: »Weil sie es nicht ertragen hat, dass ich sie allein ließ, obwohl Lucinda vermisst wird.«
Joanne schnappt nach Luft. Das ist wirklich eine beschissene Situation.
Guy sagt: »Ich weiß, was Sie jetzt denken«, und Joanne legt nachdenklich den Kopf schief. »Bestimmt fragen Sie sich jetzt, was für ein Mann seiner Frau so etwas antun würde.«
Eigentlich hatte Joanne gerade gedacht, dass sie als Polizistin in einem Krimi an dieser Stelle sagen müsste: »Was ich denke, ist egal. Es ist mein Job, das Verschwinden Ihrer Tochter aufzuklären und den Schuldigen der Justiz zuzuführen.« Weil sie aber im richtigen Leben sind, sagt Joanne: »Was für eine miese Nummer. Wer hat Ihnen beigebracht, Frauen so zu behandeln?«
Er sieht sie kühl an. »Sie können das nicht verstehen. Kate hat … Kate hat Probleme. Sehr große Probleme.« Und Joanne wirft ihm einen Blick zu, der ihm sagen soll: Ja, du Schwein. Du bist ihr Problem.
»Lassen Sie mich raten«, sagt sie und lehnt sich zurück, »Ihre russische Frau hat ja so viel mehr Verständnis für Sie.«
»Georgisch«, korrigiert er sie.
»Verzeihung.«
Guy atmet tief ein.
»Kate ist seit mehreren Jahren in psychotherapeutischer Behandlung. Als ich ihr zum ersten Mal von Nino erzählte, hat sie es nicht gut aufgenommen. Sie ist voll und ganz in der Mutterrolle aufgegangen.«
Joanne wartet, dass Guy weiterspricht, aber er hat keine Kraft mehr. Was er sagen möchte, ist zu schmerzlich; er braucht eine Weile, die nötige Energie aufzubringen.
»Zur selben Zeit bekam Fergus Probleme mit den Augen. Wir haben alles Mögliche versucht«, sagt er. »Sind mit ihm zu Fachärzten gefahren. Das Auge war furchtbar angeschwollen und verkrustet, er litt unter einer chronischen Entzündung, die wir nie richtig in den Griff bekamen. Irgendwann befürchteten wir sogar, er könnte erblinden. Kate hat sich aufopferungsvoll um ihn gekümmert, sie ist sogar nach London in die Augenklinik mit ihm gefahren, immer wieder. Aber auch die Ärzte dort hatten keine Erklärung …« – Guy hält inne und bläst die Backen auf in trauriger Resignation –, »bis ein neuer Arzt aus Kanada irgendwann meinte, die Lösung gefunden zu haben.«
Joanne sieht Guy erwartungsvoll an.
»Er rief mich an und wollte wissen, ob ich gerade allein sei. Dann sagte er mir, er habe Fasern auf Fergus’ Hornhaut gefunden.«
Joanne schüttelt den Kopf. »Was für Fasern? Wie kommen die da hin?«
»Das war Kate.«
Joanne fällt die Kinnlade herunter.
»Kate hat mit ihrem Pashmina-Schal in Fergus’ Auge herumgerieben.«
»Warum?«
»Gute Frage. Ich wusste ja, dass sie mit meiner Beziehung zu Nino nicht zurechtkam, aber das bestürzte mich wirklich. Kurze Zeit später wurde bei ihr das Münchhausen-Stellvertretersyndrom diagnostiziert. Wir erfuhren auch, dass sie eine Pipette benutzt hatte, um ihm Bleiche in die Augen zu tropfen. Was aber, wie sie beteuerte, nur ganz selten vorgekommen war. Nur, wenn ihr Leben vollkommen aus den Fugen zu geraten drohte.«
»Bleiche? Du lieber Himmel«, sagt Joanne und denkt, dass sie die ganze Geschichte schnellstmöglich überprüfen muss.
»Gilt sie als geheilt?«, fragt Joanne.
»Natürlich nicht«, sagt Guy traurig, »sonst läge sie jetzt nicht im Krankenhaus.«
Er ist auf dem Rückweg und gratuliert sich zu seinem Geschick. Er wird immer besser, er wird immer besser darin, seine Spuren zu verwischen und sich unsichtbar zu machen.
Er fährt durch Windermere und spielt mit dem Gedanken, kurz bei der Windermere Academy zu halten. Nur um einen Blick auf das Mädchen zu werfen, das er sich als Nächstes ausgesucht hat. Vielleicht ergibt sich sogar eine Gelegenheit, mit ihr zu reden. Er weiß, dass er ihr aufgefallen ist. Sie mag ihn. Er hat beobachtet, wie sie ihn beobachtet.
Er sieht ein, dass er mit zwei an einem Tag womöglich sein Schicksal herausfordert. Also fährt er nach Hause. Er sollte sich ein wenig zurückhalten, um den Gefallen daran nicht zu verlieren. Falls er weitermachen will. Morgen ist auch noch ein Tag, denkt er. Vielleicht kann er ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken, wenn sie aus dem Schulbus steigt.
Er stellt sich vor, wie sie auf sein Auto zukommt, und seine Haut kribbelt vor Vorfreude. Ihre dunkle Haut, die schwarzen Haare, die schokoladenbraunen Augen …
Vierter Tag FREITAG
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