Die Schuld wird nie vergehen
Die einzige andere Person, die im Empfangsbereich wartete, war ein korpulenter Anwalt. Er las Polizeiberichte. Offenbar bereitete er sich auf den Besuch bei einem Mandanten vor
Der Beamte gab Ami den Ausweis zurück und durchsuchte ihren Aktenkoffer. Als die Suche weder Waffen noch verbotene Güter zu Tage förderte, winkte er Ami zu einem Metalldetektor vor dem Gefängnisaufzug. Ami ging hindurch, ohne Alarm auszulösen. Ein anderer Beamter brachte sie zum Aufzug und fuhr mit ihr in das Stockwerk, in dem Vanessa einsaß.
Nach der kurzen Fahrt trat Ami in einen engen Korridor mit grauen Betonwänden. Kaum hatten sich die Aufzugtüren hinter ihr geschlossen, bekam sie Platzangst. Der Beamte an der Rezeption hatte ihr gesagt, sie sollte den Polizisten auf diesem Stockwerk über eine Gegensprechanlage rufen, die an der Wand neben einer dicken Metalltür auf dem Flur befestigt war. Ami drückte mehrmals nervös den Knopf, bis der Lautsprecher knisterte und eine Stimme sie nach ihren Wünschen fragte.
Wenige Augenblicke später betrachtete ein Gefängniswärter Ami durch die dicke Glasscheibe in der oberen Hälfte der Tür und sprach in ein Walkie-Talkie. Elektronische Schlösser schnappten auf, und der Wachmann schob Ami in einen anderen schmalen Korridor, der an den drei großen Besuchsräumen entlang führte, in der Gefangene ihren Anwälten von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen konnten. Scheiben aus bruchsicherem Glas gewährten einen Blick in die Räume.
Vanessa wartete bereits in dem am weitesten von den Aufzügen entfernten Raum. Sie trug einen orangefarbenen Overall und saß auf einem Plastikstuhl, von denen noch ein identischer auf der anderen Seite eines runden Tisches stand, der am Boden festgeschraubt war. Der Wachmann öffnete eine weitere Metalltür und trat zur Seite. Ami ging in das Zimmer, und der Wachmann deutete auf einen schwarzen Knopf, der an einer Gegensprechanlage an der Betonwand befestigt war.
»Drücken Sie den Knopf, wenn Sie fertig sind. Dann lasse ich Sie heraus.« Die Tür fiel ins Schloss
Vanessa war ungekämmt und deutlich abgemagert. Sie hatte endlose Tage im Gefängnis von San Diego gesessen, während Oregon und Kalifornien sich darum stritten, wer sie zuerst anklagen durfte.
»Geht es Ihnen gut?« fragte Ami.
»Nein. Ich bin am Ende«, antwortete Vanessa aufrichtig. Sie wirkte erschöpft.
»Es tut mir so leid, Vanessa.«
»Es ist nicht Ihre Schuld. Ich allein trage die Verantwortung.« Plötzlich zeigte sich ein Anflug von Vanessas alter Entschlossenheit und Selbstvertrauen auf ihrem Gesicht.
»Aber ich bereue nichts. Carl wäre tot, wenn ich ihn nicht gerettet hätte.« Dann ließ sie die Schultern sinken und wirkte verloren. »Hoffentlich überlebt er im Gefängnis. Seine Chancen stehen nicht gut. Er ist für den General eine zu große Bedrohung.«
Ami widersprach ihr nicht. Sie war mittlerweile davon überzeugt, dass diese geheime Einheit eine Wahnvorstellung ihrer Mandantin war, aber was nützte es, wenn sie ihr nun widersprach. Sie öffnete den Aktenkoffer und entnahm ihm einige Dokumente.
»Ich habe eine Niederlegungsverfügung mitgebracht, die Sie unterschreiben müssen.« Ami schob ihr die Papiere und einen Stift hinüber.
»Sie wollen mich nicht vertreten?«
»Das kann ich nicht. Das haben wir doch schon bei unserem ersten Gespräch geklärt. Erstens habe ich keine Erfahrung als Strafverteidigerin, und zweitens ist es unethisch für einen Anwalt, zwei Mandanten in demselben Fall zu verteidigen. Das ist ein eindeutiger Interessenkonflikt. Zum Beispiel kann ein Anwalt für seinen Mandaten einen Deal mit der Anklage aushandeln. Wenn es zwei Angeklagte gibt, ist es Usus, dass der Anwalt eines Beklagten dem Bezirksstaatsanwalt anbietet, dass sein Mandant für ein geringeres Strafmaß gegen den anderen Angeklagten aussagt. Das kann ich aber nicht für Sie und Carl tun, wenn ich Sie beide vertrete. Außerdem habe ich geholfen, Sie zu verstecken. Können Sie sich vorstellen, welche Schwierigkeiten ich bekomme, wenn das herauskommt? Ich habe Ihnen geholfen und aktiv Beihilfe zu Ihrer Flucht geleistet. Wenn ich ebenfalls angeklagt werde, muss ich den Fall niederlegen. Ganz zu schweigen davon bin ich Zeugin für Carls Angriff auf Barney Lutz und den Polizeibeamten bei Ryans Spiel.« Ami lächelte bedauernd. »Machen Sie sich keine Sorgen! Ray Armitage will Carl nach wie vor vertreten, und für Sie habe ich Janet Massengut als Anwältin gewonnen. Sie ist exzellent und
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