Die Schuld
haben, arbeiten heute selbst mit Drogenabhängigen.«
»Wie viele Patienten können Sie unterbringen?«
»Wir haben insgesamt achtzig Betten, die alle belegt sind. Vom Platz her könnten wir die doppelte Anzahl Betten aufstellen, aber wir haben nie genug Geld.«
»Wer finanziert die Einrichtung?«
»Achtzig Prozent kommen vom Staat, aber das Geld muss jedes Jahr neu beantragt werden, und es gibt keine Garantie, dass es wieder bewilligt wird. Den Rest betteln wir uns bei privaten Stiftungen zusammen. Wir haben zu viel zu tun, um uns permanent um die Beschaffung von Geldern zu kümmern.«
Clay blätterte eine Seite um und machte sich eine Notiz. »Tequila hat keinen einzigen Familienangehörigen, mit dem ich reden könnte?«
Talmadge X durchstöberte seine Akte und schüttelte dann den Kopf. »Vielleicht könnten Sie irgendwo eine Tante finden, aber erwarten Sie nicht zu viel. Selbst wenn Sie sie fänden, wie sollte sie Ihnen helfen?«
»Sie wird mir nicht helfen können. Trotzdem ist es immer gut, wenn man Kontakt zu einem Verwandten hat.«
Talmadge X blätterte die Unterlagen weiter durch, als hätte er etwas Bestimmtes im Kopf. Clay vermutete, dass er nach Notizen oder Einträgen suchte, die er herausnehmen wollte, bevor er ihm die Akte übergab.
»Wann kann ich das haben?«, fragte Clay.
»Wie wär's mit morgen? Ich möchte es mir gern noch mal anschauen.«
Clay zuckte die Achseln. Wenn Talmadge X morgen sagte, hieß das morgen.
»Mr Carter, ich finde kein Motiv. Sagen Sie mir, warum er es getan hat.«
»Das kann ich nicht. Erzählen Sie's mir. Immerhin kennen Sie ihn seit fast vier Monaten. Tequila war nie gewalttätig und hat bis zu diesem Vorfall nichts mit Waffen zu tun gehabt. Er hat keinen Hang zur Gewalt. Was Sie mir erzählt haben, hört sich nach einem Vorzeigepatienten an. Sie haben ihn erlebt. Sagen Sie mir, warum er es getan hat.«
»Ich habe schon fast alles gesehen«, entgegnete Talmadge X, dessen Blick jetzt trauriger wirkte als zuvor. »Aber so was ist mir noch nie untergekommen. Dieser Junge hatte geradezu Angst vor Gewalt. Prügeleien dulden wir hier nicht, aber Jungs sind Jungs, und Einschüchterungsrituale wird es immer geben. Tequila war einer von den Schwachen. Es ist vollkommen ausgeschlossen, dass er hier rausspaziert, eine Pistole stiehlt, sich aufs Geratewohl ein Opfer herauspickt und es umbringt. Und ich halte es für genauso ausgeschlossen, dass er sich im Gefängnis auf einen Zellengenossen stürzt und ihn krankenhausreif schlägt. Ich glaube das nicht.«
»Okay, und was soll ich den Geschworenen erzählen?«
»Welchen Geschworenen? Er muss sich schuldig bekennen, und das wissen Sie. Die Sache ist gelaufen. Er wird für den Rest seines Lebens im Gefängnis verschwinden. Ich bin sicher, dass er dort jede Menge alte Bekannte treffen wird.«
Eine längere Gesprächspause entstand, die Talmadge X aber nicht im Mindesten zu irritieren schien. Er schloss die Akte und schob sie zur Seite. Das Gespräch war zu Ende. Zeit zu gehen.
»Ich komme morgen wieder«, sagte Clay. »Wann ist es Ihnen recht?«
»Nach zehn«, antwortete Talmadge X. »Ich bringe Sie raus.«
»Das ist wirklich nicht nötig«, sagte Clay erleichtert und nur der Form halber.
Die Gang war mittlerweile um einige Mitglieder gewachsen und schien darauf zu warten, dass Clay das D-Camp verließ. Sie saßen auf oder lehnten an seinem Honda, aber immerhin war der Wagen noch da und ganz. Auf welchen Spaß sie sich auch freuen mochten, als Talmadge X erschien, war alles schnell vergessen. Mit einer einzigen energischen Kopfbewegung vertrieb er sie, und Clay konnte ungestört losfahren. Sorgenvoll dachte er an seine morgige Rückkehr.
Acht Häuserblocks weiter bog er in die Lamont Street ein. An der Ecke Georgia Avenue hielt er, um sich einen Überblick zu verschaffen. An Seitengassen, in denen man jemanden erschießen konnte, herrschte kein Mangel, und er hatte nicht vor, nach Blutflecken zu suchen. Das Viertel war genauso trostlos wie das, in dem er eben gewesen war. Er würde mit Rodney zurückkommen, einem schwarzen Anwaltsassistenten, der sich hier auskannte. Dann würden sie sich genauer umsehen und Fragen stellen.
5
D er Potomac Country Club in McLean, Virginia, war vor hundert Jahren von ein paar wohlhabenden Leuten gegründet worden, denen andere Country Clubs die kalte Schulter gezeigt hatten. Reiche können fast alles ertragen, nur keine Zurückweisung. Die Ausgeschlossenen pumpten beträchtliche
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