Die Schuld
Richmond wären deine Eltern nicht weit genug weg.«
»Und wie ginge es dann weiter?«
»Wir werden uns Jobs suchen.«
»Und was für Jobs? Herrscht im Westen etwa ein großer Mangel an Anwälten?«
»Du vergisst etwas, Rebecca. Gestern Abend noch war ich ein begabter Anwalt mit einer hervorragenden Universitätsausbildung und einem messerscharfen Verstand. Die großen Kanzleien werden förmlich Jagd auf mich machen. Nach eineinhalb Jahren bin ich irgendwo Teilhaber. Wir werden Kinder haben.«
»Spätestens dann werden meine Eltern kommen.«
»Nein, denn wir werden ihnen nicht sagen, wo wir sind. Sollten sie uns trotzdem finden, werden wir unseren Namen ändern und nach Kanada ziehen.«
Als zwei weitere Drinks serviert wurden, kippten sie die alten in einem Schluck hinunter.
Der unbeschwerte Moment war schnell wieder vorbei. Aber er hatte beide daran erinnert, warum sie sich geliebt und wie sehr sie das Zusammensein genossen hatten. Insgesamt hatte es in ihrer Beziehung mehr erfreuliche als traurige Momente gegeben, aber die Dinge hatten sich geändert. Weniger heitere Augenblicke, mehr sinnlose Kabbeleien, mehr Einflussnahme seitens ihrer Familie.
»Ich mag die Westküste nicht«, sagte Rebecca schließlich.
»Dann such du einen Ort aus.« Doch das imaginäre Abenteuer war schon beendet. Ihre Eltern hatten einen Ort für sie ausgesucht, und sie würde sich nicht zu weit von Papa und Mama entfernen.
Was immer Rebecca auch im Hinterkopf haben mochte, jetzt musste sie damit herausrücken. Sie nahm einen tiefen Schluck, beugte sich vor und blickte Clay direkt in die Augen. »Ich brauche Zeit für mich, Clay.«
»Mach's dir nicht so schwer, Rebecca. Wir tun, was immer du willst.«
»Danke.«
»Wie lange soll die Auszeit dauern?«
»Das ist keine Verhandlung, Clay.«
»Einen Monat?«
»Länger.«
»Nein, das akzeptiere ich nicht. Wir einigen uns darauf, uns einen Monat lang nicht zu sehen und auch nicht zu telefonieren, okay? Heute ist der siebte Mai. Wir treffen uns am sechsten Juni, hier an diesem Tisch. Dann können wir über eine Verlängerung reden.«
»Eine Verlängerung?«
»Nenn es, wie du willst.«
»Besten Dank. Ich nenne es eine Trennung, Clay, das Ende. Du gehst deinen Weg, ich meinen. In einem Monat werden wir reden, aber ich glaube kaum, dass sich dann etwas geändert hat. Genauso, wie sich im letzten Jahr nicht viel geändert hat.«
»Würdest du dich auch von mir trennen, wenn ich diesen grauenhaften Job in Richmond angenommen hätte?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»›Wahrscheinlich nicht‹ heißt ja, richtig?«
»Ja.«
»Dann war das alles inszeniert, stimmt's? Der Job, das Ultimatum. Die Geschichte gestern Abend war genau das, wofür ich sie gehalten habe - ein mieser Hinterhalt. Nehmen Sie den Job, mein Junge, sonst…«
Rebecca stritt es nicht ab. »Ich habe diese Auseinandersetzungen satt, Clay. Ruf mich einen Monat lang nicht an.«
Sie griff nach ihrer Handtasche, sprang auf und schaffte es im Vorbeigehen gerade noch, Clay einen flüchtigen und bedeutungslosen Kuss auf die rechte Schläfe zu drücken. Clay nahm es kaum wahr. Er blickte ihr nicht nach. Auch Rebecca drehte sich nicht um.
8
C lay wohnte in einem Gebäudekomplex in Arlington, an dem bereits der Zahn der Zeit nagte. Als er die Wohnung vor vier Jahren gemietet hatte, sagte ihm der Name BvH Group rein gar nichts. Später sollte er erfahren, dass das Unternehmen den Komplex in den frühen Achtzigerjahren errichtet hatte und dass das Projekt eines seiner ersten riskanten Bauvorhaben gewesen war. Es entpuppte sich als Fiasko, und der Gebäudekomplex wurde mehrfach verkauft. Somit hatte Clay nie auch nur einen Cent Miete an Mr van Horn überwiesen. Niemand in der Familie wusste, dass er in einem Haus wohnte, das einst von Bennett gebaut worden war. Nicht einmal Rebecca.
Clay teilte sich die Zwei- Zimmer-Wohnung mit Jonah, einem alten Freund aus Studentenzeiten, der beim Juraexamen viermal durchgefallen war und es erst beim fünften Anlauf geschafft hatte. Jetzt verkaufte er Comp uter. Das war zwar nur ein Teilzeitjob, aber er verdiente trotzdem mehr als Clay, und das war beiden unterschwellig immer präsent.
Am Morgen nach der Trennung von Rebecca ging Clay zur Wohnungstür, um die Washington Post zu holen. Er setzte sich mit der Leitung an den Küchentisch und trank die erste Tasse Kaffee. Wie immer schlug er zuerst den Wirtschaftsteil auf, um sich über die miserable Entwicklung der BvHG-Aktie zu informieren.
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