Die Schuld
vorbeitaumelten. Das Boot schaukelte sanft.
»War's ein harter Tag?«, fragte Clay.
»Wir sind bei Sonnenaufgang ausgelaufen. Ich hatte einen Vater mit seinen beiden Söhnen an Bord, starke Burschen, wahre Gewichtheber. So viele Muskeln habe ich noch nie auf einem Boot gesehen. Sie haben fast fünfzig Kilo schwere Fächerfische aus dem Wasser gezogen, als wären es Forellen.«
Auf dem Kai kamen zwei Frauen vorbei, beide um die vierzig, beide mit kleinen Rucksäcken und Angelutensilien. Ihre Haut war genauso sonnenverbrannt wie die der anderen Angler. Eine hatte ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen, die andere war etwas schlanker. Jarrett taxierte beide mit gleichem Interesse. Es war fast peinlich, wie er sie angaffte, bis sie schließlich verschwunden waren.
»Hast du noch deine Wohnung?«, fragte Clay. Die Eigentumswohnung, die er vor vier Jahren gesehen hatte, war ein heruntergekommenes Zwei-Zimmer-Apartment auf der Landseite des Hafens.
»Ja, aber im Augenblick lebe ich auf dem Boot. Der Besitzer kommt nicht oft, also bleibe ich hier. Du kannst auf dem Sofa in der Kabine schlafen.«
»Du lebst auf diesem Boot?«
»Klar. Platz gibt's genug, sogar eine Klimaanlage. Meistens bin ich sowieso allein.« Sie tranken einen Schluck und beobachteten eine weitere Gruppe ange trunkener Fischer. »Morgen fahre ich ein paar Touristen raus«, sagte Jarrett. »Kommst du mit?«
»Was sollte ich hier sonst tun?«
»Meine Kunden sind ein paar Clowns von der Wall Street, die um sieben Uhr morgens auslaufen wollen.«
»Könnte amüsant werden.«
»Ich hab Hunger.« Jarrett sprang auf und warf seine Bierdose in einen Müllsack. »Komm.«
Sie schlenderten über den Pier, an dem Dutzende Schiffe verschiedenster Art vertäut waren. Auf den Segelbooten aßen die Leute zu Abend, die Kapitäne der Fischerboote entspannten sich bei einem Bier. Jeder rief Jarrett etwas zu, und der hatte für alle eine schlagfertige Antwort parat. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, Schuhe anzuziehen. Clay ging einen Schritt hinter ihm. Das ist also dein Vater, dachte er, der einstmals berühmte Jarrett Carter - ein barfüßiger Herumtreiber in ausgeblichenen Shorts und offenem Hemd. Der König von Marsh Harbor. Und ein sehr unglücklicher Mann.
Das Blue Fin war eine überfüllte und laute Bar. Jarrett schien jeden Gast zu kennen. Noch bevor sie zwei freie Hocker gefunden hatten, stellte der Barkeeper zwei große Gläser Rumpunsch auf die Theke. »Prost«, sagte Jarrett. Sie stießen an. Clays Vater hatte sein Glas schon nach dem ersten Schluck zur Hälfte geleert. Dann fachsimpelte er mit einem anderen Gast über die Fischerei. Eine Zeit lang kümmerte er sich nicht um seinen Sohn, doch dem war das ganz recht. Als Jarrett sein Glas geleert hatte, bestellte er umgehend den nächsten Rumpunsch. Und bald darauf noch einen.
An einem großen runden Tisch in einer Ecke wurde ein Essen mit Hummer, Krabben und Shrimps vorbereitet. Jarrett gab Clay ein Zeichen, und sie setzten sich mit einem halben Dutzend anderen Gästen an den Tisch. Die Musik war laut, das Gerede noch lauter. Alle am Tisch gaben ihr Bestes, um möglichst schnell betrunken zu werden. Jarrett gab das Tempo vor.
Rechts neben Clay saß ein alternder Hippie, der damit prahlte, sich vor dem Vietnamkrieg gedrückt und seinen Einberufungsbescheid verbrannt zu haben. Er lehnte sämtliche demokratischen Ideale ab - inklusive feste Anstellung und Einkommensteuer. »Ich treib mich seit dreißig Jahren in der Karibik rum«, sagte er mit vollem Mund. »Die Behörden wissen nicht mal, dass es mich gibt.«
Clay glaubte, dass es den Behörden auch ziemlich egal war, ob dieser Mann existierte oder nicht. Das galt auch für die anderen verkrachten Existenzen, die an dem Tisch saßen und alle vor etwas auf der Flucht waren: vor Unterhaltszahlungen, Steuerforderungen, Gerichtsprozessen oder den Folgen schlechter Geschäfte. Sie hielten sich für Rebellen, Nonkonformisten und Freigeister - gleichsam für moderne Piraten, deren Unabhängigkeitsdrang sich nicht in das enge Korsett gesellschaftlicher Konventionen zwängen ließ.
Im letzten Sommer war Abaco von einem Hurrikan verwüstet worden. Captain Floyd, das schlimmste Großmaul am Tisch, erzählte, dass er mit seiner Versicherung deshalb Krieg führe. Das löste eine ganze Lawine weiterer Geschichten über den Hurrikan aus, die natürlich mit einer weiteren Runde Rumpunsch begossen werden mussten. Clay hörte auf zu trinken, sein Vater nicht. Mit
Weitere Kostenlose Bücher