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Die Schuld

Titel: Die Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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Drittel davon. Alles.
    Er war leger gekleidet. Die Aktentasche ließ er im Wagen. Die Mutter war zu Hause, der Vater noch in der Arbeit.
    Widerstrebend bat sie ihn herein, bot ihm dann aber doch Eistee und Kekse an. Er wartete im Wohnzimmer auf dem Sofa. Überall bemerkte er Fotografien des toten Sohnes. Die Vorhänge waren zugezogen. Es war schon länger nicht mehr aufgeräumt worden.
    Was tue ich hier nur?
    Sie redete lange über ihren Sohn, und Clay hörte mit großem Interesse zu.
    Der Vater arbeitete als Versicherungsvertreter und war nur ein paar Straßen weiter bei einem Kunden. Er kam nach Hause, bevor das Eis im Glas geschmolzen war. Clay erzählte den beiden die Geschichte so ausführlich wie möglich. Zunächst kamen ein paar vorsichtige Fragen: Wie viele andere sind aus demselben Grund gestorben? Warum können wir uns nicht an die Behörden wenden? Sollte das nicht an die Öffentlichkeit gebracht werden? Clay parierte wie ein alter Hase. Pace hatte ihn gut vorbereitet.
    Wie alle Opfer standen sie vor der Wahl. Sie konnten wütend werden, Fragen stellen, Forderungen geltend machen, Gerechtigkeit verlangen. Oder sie konnten stillschweigend das Geld nehmen. Die Summe von fünf Millionen Dollar machte zunächst keinen Eindruck auf sie, und wenn doch, gelang es ihnen vorzüglich, das zu verbergen. Sie wollten wütend sein und gleichgültig gegenüber dem Geld, zumindest am Anfang. Erst im Verlauf des Abends ließen sie sich doch verführen.
    »Wenn Sie mir den Namen der Firma nicht nennen, werde ich das Geld nicht annehmen«, sagte der Vater.
    »Ich kenne den Namen nicht«, erwiderte Clay.
    Verzweiflung und Aggression, Liebe und Hass, Vergebung und Vergeltung - fast jede Emotion flammte in diesen Nachmittags- und frühen Abendstunden auf. Sie hatten gerade ihren jüngsten Sohn zu Grabe getragen, und der Schmerz war dumpf und unermesslich. Es war ihnen nicht geheuer, dass Clay da war und doch waren sie ihm für seine Anteilnahme mehr als dankbar. Sie misstrauten ihm, dem Großstadtanwalt, der offensichtlich nicht die Wahrheit sagte über diese unverschämt hohe Entschädigung. Dennoch baten sie ihn, zu einem »gemeinsamen Abendessen« zu bleiben, was auch immer damit gemeint war.
    Das Abendessen kam pünktlich um sechs. Vier Damen von der Kirchengemeinde schleppten Lebensmittel herein, die für eine Woche gereicht hätten. Clay wurde als Freund aus Washington vorgestellt und von den vieren umgehend einem ausführlichen Kreuzverhör unterzogen. Ein abgebrühter Prozessanwalt hätte nicht neugieriger fragen können als sie.
    Schließlich verabschiedeten sich die Damen wieder. Im weiteren Verlauf des Abends wurde Clay aufdringlicher. Außer ihm würde ihnen nie wieder jemand so einen Deal anbieten. Kurz nach zehn Uhr unterschrieben sie die Dokumente.
     
    Nummer drei war eindeutig der schwierigste Fall: eine siebzehnjährige Prostituierte, die die meiste Zeit ihres Lebens auf der Straße gearbeitet hatte. Die Polizei ging davon aus, dass sie und ihr Mörder geschäftlich verkehrt hatten, doch es gab keinen Hinweis darauf, warum er sie hätte töten sollen. Es war vor einer Bar geschehen, vor den Augen von drei Zeugen.
    Sie hieß nur Bandy, ohne Nachnamen. Pace hatte bei seinen Recherchen nichts gefunden - keinen Ehemann, keine Mutter, keinen Vater, keine Geschwister, keine Kinder, keine Heimatadresse, keine Schulen, keine Kirchengemeinden, aber auch keine Vorstrafen, was erstaunlich war. Es hatte keine Beerdigung gegeben. Wie jährlich rund zwei Dutzend andere Tote in Washington hatte Bandy eine Armenbestattung bekommen. Als einer von Pace' Mitarbeitern bei der zuständigen Behörde nachfragte, bekam er die Auskunft: »Sie liegt im Grab der unbekannten Prostituierten.«
    Es gab einen einzigen Hinweis, der ausgerechnet von ihrem Mörder stammte. Er hatte der Polizei erzählt, dass Bandy eine Tante in Little Beirut habe, dem gefährlichsten Getto im Südosten Washingtons. Doch nach zwei Wochen intensiver Nachforschungen war diese Tante nicht gefunden worden.
    Solange es keine Verwandten gab, konnte auch kein Vergleich geschlossen werden.
14
    D ie letzten Tarvan-Mandanten, die noch unterschreiben mussten, waren die Eltern einer zwanzigjährigen Studentin der Howard-Universität. Sie war eine Woche nachdem sie das Studium abgebrochen hatte, ermordet worden. Ihre Eltern lebten in Warrenton, Virginia, vierzig Meilen westlich von Washington. Eine Stunde lang saßen sie in Clays Büro und hielten sich an den Händen, als

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