Die Schuldlosen (German Edition)
Pension und wurde eilends ins nächste Krankenhaus kutschiert, wo ihr Körper den Fötus abstieß. Nach Ansicht des Arztes wäre der schon Wochen vorher abgestorben, sagte sie. Es hätte ihr eigentlich auffallen müssen, dass mit dem Kleinen etwas nicht stimmte. Sie hätte ja seit Wochen kein Leben mehr gespürt. Aber wo ihr selbst die ganze Zeit so elend gewesen sei, hätte sie gedacht, das würde sich aufs Baby übertragen. Sie hätte großes Glück gehabt, dass es spontan abgegangen sei, sagte sie. Ein totes Kind im Bauch hätte bei ihr zu einer Sepsis führen können. Ich habe ihr kein Wort geglaubt. Sie hat’s wegmachen lassen, da bin ich sicher. Es tut mir leid, Alex. Es tut mir so unendlich leid.»
Wie oft er diese Zeilen gelesen und versucht hatte zu begreifen, dass Heike seinen Sohn umgebracht hatte, wusste er nicht mehr. Oft genug jedenfalls, um sie nicht nur Wort für Wort im Kopf, sondern in Silvies Handschrift vor Augen zu haben.
«… hat sie kurz nach dem Prozess verloren», brachte er den Satz stockend zu Ende. «Sie war im sechsten Monat. Es soll ein Junge gewesen sein.»
Fast erwartete er, dass auch Bernd Leunen sagte: Es tut mir leid. Aber der Polizist erhob sich und schlug vor: «Reden Sie mit Heike, wenn sie aus dem Urlaub zurückkommt. Sie ist eine vernünftige Frau. Die Kleine hat sich bei Ihnen wohlgefühlt und möchte weiterhin Kontakt haben. Das hat sie auf der Wache deutlich zum Ausdruck gebracht. Da wird sich im Interesse des Kindes bestimmt eine Einigung finden lassen.»
«Dein Wort in Gottes Ohr», murmelte Alex. «Ich glaube nur nicht, dass er es gehört hat.»
Er stand ebenfalls auf und begleitete Bernd Leunen zur Tür. Nachdem der Streifenwagen abgefahren und die Tür wieder geschlossen war, tat er, was er in Ossendorf getan hatte, als er endlich aus diesem Albtraum aufwachte und realisierte, dass der Traum, als Vater seinen Mann zu stehen, für ihn ausgeträumt war. Er weinte, bis ihm der Schädel davon dröhnte.
Dass an diesem Freitag noch jemand auf der Wache erschien, um eine Anzeige gegen Alex zu erstatten, die Bernd Leunen nicht so einfach hätte zurückweisen können, verhinderte Silvie. Zwar kam auch sie zu dem Schluss, dass Alex sich ihren Autoschlüssel genommen haben musste, aber dass Lothar deswegen zur Wache wollte, bezeichnete sie als völlig überzogene Reaktion.
«Das Auto ist in Ordnung», erklärte sie resolut, während sie den Wagen von der S-Bahn-Station Richtung Garsdorf lenkte. «Alex hat nur ein bisschen Sprit verfahren. Das können wir verkraften. Deswegen wirst du ihm nicht die Bewährung versauen.»
Wobei es für Silvie nur eine untergeordnete Rolle spielte, dass Alex mit dem Griff in ihre Handtasche seine Bewährung aufs Spiel gesetzt hatte. Ihr war viel wichtiger, dass nach einer Anzeige höchstwahrscheinlich bekannt geworden wäre, wann er die Gelegenheit beim Schopf gepackt hatte. Nicht samstags, da war sie vollkommen sicher.
Dass Alex sie zweimal im Krankenhaus besucht hatte, wusste Lothar noch nicht und sollte es nach Möglichkeit auch nicht erfahren, solange sie nicht wusste, mit wem ihr Mann am Dienstag die Unterhaltung über sein voreheliches Sexleben geführt hatte. Gefragt hatte sie ihn bislang nicht, weil ihr niemand eingefallen war, den sie als Informationsquelle vorschieben konnte.
Warum ihr der von Alex angeblich im Vorbeilaufen aufgeschnappte Satz so übel aufgestoßen war, dass es immer noch in ihr gärte, hätte sie nicht genau sagen können. Da kam auch einiges zusammen. Einmal die Tatsache, dass Lothar in sexueller Hinsicht seit mittlerweile elf Wochen auf Eis lag und sich noch geraume Zeit würde gedulden müssen, solange ihm die Alternativen zu pubertär waren. Dass er in dieser Phase erzwungener Enthaltsamkeit bei irgendeinem Bekannten mit seinem früheren Verschleiß an Discoschnecken geprahlt hatte, ließ tief blicken. Vielleicht sehnte er sich momentan in diese Zeit und seine damalige Freiheit zurück.
Dann war da das Wörtchen «alle». Alle schloss doch wohl alle ein, die Alex gehabt hatte. Janice Heckler gehörte eindeutig dazu. Nach dem ersten Mal damals, als sie eng aneinandergekuschelt auf seinem schmalen Bett lagen, hatte Lothar das zwar sehr weit von sich gewiesen. Aber wie oft war ihr inzwischen aufgefallen, dass man ihm längst nicht jedes Wort glauben durfte.
Wenn seine Vernunft befand, es sei besser, die Wahrheit ein bisschen zu verbiegen, damit man nirgendwo damit aneckte, dann hörte Lothar auf seine
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