Die Schuldlosen (German Edition)
Vernunft. Und an dem Abend in seinem Zimmer hätte seine Vernunft wahrscheinlich gebrüllt: «Sie kann Janice auf den Tod nicht ausstehen, sag ihr bloß nicht, dass du die auch flachgelegt hast.»
Wenn sie wenigstens wüsste, mit wem er am Dienstag gesprochen hatte. Dann könnte sie vielleicht abschätzen, ob das nur eine blöde, vollkommen bedeutungslose Angeberei gewesen war oder ob es Anlass zur Besorgnis gab.
Mit dem entwendeten Autoschlüssel und einigen nicht erlaubten Fahrten sah sie sich bei Alex im Vorteil. Entweder, du sagst mir jetzt, wem Lothar das erzählt hat, oder ich lasse ihn doch zur Wache nach Grevingen fahren und Anzeige erstatten.
Lothar war alles andere als begeistert, als sie daheim ankamen und Silvie keine Anstalten machte auszusteigen. Sie verlangte nur, dass er das tat und David mit ins Haus nahm.
«Du willst doch jetzt nicht etwa alleine zu Alex!»
Doch! Genau das wollte sie.
«Das kommt überhaupt nicht in Frage», protestierte Lothar. «Das übernehme ich.»
«Irrtum», widersprach sie. «Mir hat er den Schlüssel geklaut. Ich hole mir das Ding zurück.» Und das in einem Ton, den Lothar nur selten von ihr hörte. Wenn sie den anschlug, dominierten die Gene ihres Vaters. Dann war es besser, ihr den Willen zu lassen. Also befreite Lothar seinen Sohn aus dem Kindersitz im Wagenfond und trug den sichtlich enttäuschten David, der lieber weiter mit Mama Auto gefahren wäre, zur Haustür.
Nur wenige Minuten später hielt der Kombi vor der Villa. Silvie sprang ins Freie, musste jedoch eine Weile klingeln, ehe Alex endlich an die Tür kam. Seine Augen und die Nase waren gerötet, die Lider geschwollen. Ein Anblick, der sie überraschte und so unangenehm berührte, dass er ihr den Wind aus den Segeln nahm. Statt loszulegen: «Was fällt dir ein …» , erkundigte sie sich zögernd: «Hast du geweint?»
«Schäl du mal zwei Kilo Zwiebeln und schneide die in kleine Würfel», sagte er und schniefte. «Dann weinst du auch.»
«Was machst du denn mit zwei Kilo Zwiebelwürfeln?», fragte Silvie verblüfft.
«Einfrieren», sagte er. «Dann muss ich nicht weinen, wenn ich das nächste Mal welche brauche. – Wenn du deinen Autoschlüssel suchst, der liegt unter dem Beifahrersitz. Und dir jetzt noch zu erzählen, er müsse dir aus der Handtasche gefallen sein, erübrigt sich wohl.» Damit wollte er die Tür wieder schließen.
Aber Silvie hatte bereits einen Fuß dazwischen. «Langsam, wir sind noch nicht fertig. Was hast du dir dabei gedacht …»
«Ach, lasst mich doch einfach alle in Ruhe», murmelte er, drehte sich um und trottete mit hängenden Schultern zur Küche hinüber. Silvie trat ein, schloss die Tür hinter sich und folgte ihm. Es roch nach frisch aufgebrühtem Kaffee und noch schwach nach gebratenem Fisch.
«Du hättest mir nicht so viel von deinem Knatschsack erzählen dürfen», sagte er. «Ich dachte, ich hätte die elf Monate mit meiner Süßen weit hinter mir gelassen, hatte ich auch, aber offenbar nicht weit genug. Hundertmal am Tag und tausendmal in der Nacht habe ich mir vorgebetet, dass es für den kleinen Jungen besser war, nicht lebend auf diese beschissene Welt zu kommen. Und dass ein kleines Mädchen keinen wie mich zum Vater haben sollte. Aber verdammt noch mal, ich hab Saskia geliebt. Ich hätte auch meinen Sohn geliebt. Und das hat nicht einfach aufgehört, als sie mich weggeschlossen haben. Was hat Heike denn in den vergangenen Jahren für Saskia getan? Einen Scheißdreck! Die Kleine weiß ja nicht mal, dass sie eine Mutter hat. Sie ist in einer Retorte gewachsen wie ein Blümchen. Als sie groß genug war, wurde sie in einen Brutkasten umgetopft. Für so eine Aktion braucht man keine Frauen, nur ein bisschen Kindersamen von einem Spender. Aber wem erzähle ich das. Du weißt doch besser als ich, wie die Methode funktioniert. Hätte ich nicht gedacht, dass Lothar für so was Geld ausgibt.»
Silvie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Auf dem Tisch lag eine aufgerissene Packung mit Schokokeksen, daneben stand eine halbgefüllte Kaffeetasse, um die herum Kekskrümel zu kleinen Herzen arrangiert waren.
«Bekomme ich auch einen Kaffee?», fragte sie.
Er reagierte nicht, stand nur da und betrachtete die krümeligen Herzchen. Silvie ging zum Geschirrschrank, nahm eine Tasse heraus und bediente sich selbst an der Kaffeemaschine.
Währenddessen sagte er hinter ihr: «Bernd Leunen war heute Mittag hier. Gerhild wollte mich anzeigen. Ausgerechnet Gerhild,
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