Die Schuldlosen (German Edition)
Heinrich am Ostersonntag angerufen und ihm gebeichtet. Ich nehme an, der Alte hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich nachts an der Tür gewesen war und geklingelt hatte. Er hatte aber keinen Bock, mich reinzulassen. Kurz darauf hat er ein Mädchen schreien hören. Aber ehe er nachschauen konnte, was draußen los war, musste er sich ordentlich anziehen. Ein anständiger Mensch geht schließlich nicht im Pyjama auf die Straße. Der Schnellste war Heinrich nicht mehr. Es hat ein Weilchen gedauert, ehe er ausgehfertig war. Als er endlich draußen stand, war keiner zu sehen. Er ging trotzdem weiter, fand die Klamotten am Straßenrand und dachte, da hätte sich einer einen derben Scherz mit Janice erlaubt. In den Schuhen hatte er sie wohl schon gesehen. Er wusste jedenfalls, wem die Treter gehörten, und wollte ihr die Sachen bringen, weil er annahm, sie sei ohne Hose und auf nackten Füßen oder Strümpfen heimgelaufen. Aber bei Hecklers machte ihm keiner auf. Er wollte den Kram schon vor der Haustür ablegen, befürchtete dann jedoch, ihre Eltern könnten darüber stolpern. Jetzt sag noch einer, mein Alter wäre kein Gentleman gewesen. Er nahm die Sachen lieber mit. Tja, und am nächsten Morgen wimmelte es an der Greve von Polizei … Den Rest der Geschichte kennst du.»
«Lothar war in der Nacht auch an eurer Tür», sagte Silvie. «Ihm hat auch keiner aufgemacht.»
Er zuckte mit den Achseln. «Davon weiß ich nichts.»
Silvie ließ die Scheibe wieder hochgleiten, fuhr nach Garsdorf und weinte dort ein Weilchen, weil der Mercedes ihr nicht gefolgt war und sie wohl endlich beginnen sollte, Alex mit anderen Augen zu sehen. Außerdem hatte sie immer noch Magenschmerzen und machte sich Sorgen um die Prinzessin in ihrem Leib.
Währenddessen machte Lothar mit Heike die Einkäufe, fuhr mit ihr zur Ludwig-Uhland-Straße, begleitete sie hinauf in ihre Wohnung und blieb bis kurz vor neun bei ihr. Erst als sie ins Bett wollte und ihm zeigte, wie sie ihre Wohnungstür für die Nacht sichern würde, rief er Silvie an, damit die ihn abholte. Aber Silvie wollte ihren schlafenden Sohn nicht alleine lassen. Abgesehen davon fühlte sie sich inzwischen hundeelend, hatte keine Magenschmerzen mehr, sondern Krämpfe im Unterleib, und befürchtete das Schlimmste. Notgedrungen musste Lothar ein Taxi nehmen.
Gegen Mitternacht rief Lothar einen Krankenwagen und packte ein paar Sachen für Silvie. Er war überzeugt, dass sie vorzeitige Wehen hatte, ausgelöst durch den Schwinger, den sie für Alex eingesteckt hatte.
«War es das wert?», fragte er.
Antwort bekam er nicht. Sie weinte nur.
Nachdem die Sanitäter mit ihr abgefahren waren, packte Lothar noch eine Tasche für seinen Sohn, riss den kleinen David aus dem Schlaf, brachte ihn zu seiner Mutter und machte ihr klar, dass Franziska den Kleinen diesmal nicht nehmen konnte, weil die mit Gottfried immer noch beide Hände voll zu tun hatte. Außerdem wollte Lothar Silvies Großmutter nicht mitten in der Nacht mit der Hiobsbotschaft einer drohenden Fehlgeburt erschrecken.
Als er sich anschließend im Krankenhaus nach dem Zustand seiner Frau erkundigte, gab es jedoch Entwarnung. Eine übernächtigte junge Ärztin in der Notaufnahme tippte auf ein Magen-Darm-Virus, weil Silvie kein Wort über die Schlägerei bei Heikes Kaffeebüdchen verloren hatte.
Aber vermutlich hatte die Ärztin recht mit ihrer Diagnose. Bis zum nächsten Morgen übergab Silvie sich mehrfach und wusste zeitweise nicht, ob sie sich aufs Klo setzen oder sich darüberbeugen sollte. Das Frühstück am nächsten Morgen behielt sie keine drei Minuten im Leib. Mittags hängte man sie an den Tropf. Als Lothar nachmittags von der Arbeit kam, lag sie dösend in den Kissen, fühlte sich schlapp und elend und war dankbar, als er sich bald wieder verabschiedete.
Erst am Donnerstagmorgen ging es ihr etwas besser, sodass sie neben ihrer Enttäuschung und all dem, was sonst noch in ihr vorging, auch ein wenig Erleichterung verspürte, weil das Baby in ihrem Leib die Sache unbeschadet überstanden hatte.
21. Oktober 2010
An diesem Donnerstagmorgen wartete man in Garsdorf vergebens darauf, dass Heike die Brötchen abholte. Um Viertel vor fünf probierte ihr Bruder zum ersten Mal, sie telefonisch zu erreichen. Ihr Handy war in Betrieb, aber es klingelte nur endlos. Wolfgang Jentsch wartete ein paar Minuten, hätte ja sein können, dass Heike auf der Landstraße in einer Situation war, in der sie gerade kein Gespräch annehmen
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