Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schule der Nacht

Die Schule der Nacht

Titel: Die Schule der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Mia
Vom Netzwerk:
ihres Vaters genau die gleichen Stellen berührt hatten.
    »Ich vermisse dich, Dad«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Ich vermisse dich so sehr.«
    Erst als ihre Tränen auf die lederne Schreibunterlage tropften, bemerkte sie, dass sie weinte. Eine plötzliche Welle aus Schmerz schlug über ihr zusammen und zog sie mit sich in die Tiefe. »Warum hast du uns verlassen?«, schluchzte sie in die Stille. »Warum, Dad? Warum? « Sie sank zu Boden, schlang die Arme um die Knie und wiegte sich langsam vor und zurück. Sie wollte ja stark sein, wollte nicht aufgeben, aber sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte. Was soll ich tun, Dad?, flehte sie stumm. Du hast immer gewusst, was zu tun ist.
    Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als der Tränenstrom irgendwann allmählich versiegte, ihr Atem sich beruhigte und sie nicht mehr am ganzen Körper zitterte. Erschöpft fuhr sie sich übers Gesicht, als ihr Blick auf etwas Blaues fiel, das aus einem schmalen Spalt zwischen der Rückwand des Schreibtischs und den Schubladenfächern hervorblitzte. Stirnrunzelnd kroch sie näher, ließ die Finger darübergleiten und versuchte, es herauszuziehen, aber es klemmte fest. Sie krabbelte wieder unter dem Tisch hervor, nahm sich einen Kuli aus der Stiftablage und stemmte den Spalt damit ein Stückchen auf, um besser danach greifen zu können. Als sie es endlich herausgezogen hatte und sah, was sie in den Händen hielt, machte ihr Herz einen Satz: Es war das schmale Notizbuch, das sie in der Nacht von Isabelles Tod von seinem Schreibtisch stibitzt hatte.
    Aufgeregt setzte sie sich in den Bürostuhl und schlug es auf. Als sie das letzte Mal darin geblättert hatte, hatte sie sich über die fast unleserliche Schrift ihres Vaters und seine rätselhaften Verweise geärgert, aber jetzt kamen sie ihr wie eine Rettungsleine vor, wie leuchtende Straßenmarkierungen, die ihr den Weg wiesen.
    »1674–1886?«, lautete einer der Einträge, »Churchyard Bottom Wood/Coldfall Woods« ein anderer. Ein paar Seiten weiter stand etwas, das möglicherweise ein Buchtitel war: » Das infernalische Böse , Kingsley-Davis, 1903«, darunter eine Anmerkung: »Nester?«.
    Ihre Augen weiteten sich. Nester! Dieses Wort hatte auch auf dem Post-it gestanden, das sie ihrem Vater an jenem Morgen vor die Füße geworfen hatte. Sie presste sich das kleine Büchlein aufgeregt an die Brust. Das war genau das, was sie brauchte, um die Spurensuche ihres Vaters fortzusetzen und die Wahrheit herauszufinden. Natürlich hätte sie auch versuchen können, Gabriel direkt mit ihrem Verdacht zu konfrontieren, aber das hielt sie für zu gefährlich, und solange sie keine stichhaltigen Beweise gegen ihn in der Hand hatte, würde er von sich aus bestimmt nichts zugeben. Dieses Buch war ein Zeichen. Das Erbe ihres Vaters. Es enthielt seine Gedanken und sein Herzblut, und er hatte es sicherlich nicht umsonst versteckt. Hatte er vielleicht sogar gewollt, dass sie es fand? Sie schloss die Augen und schickte ihm ein stummes Dankeschön.
    »April?«
    Ihre Mutter. Schnell sprang sie vom Sessel auf und schob das Notizbuch in ihre Hosentasche.
    »April? Bist du das?«
    Die schlaftrunkene Stimme ihrer Mutter kam aus dem oberen Stockwerk. April schloss so leise wie möglich die Tür zum Arbeitszimmer hinter sich und schlich zum Fuß der Treppe. »Hallo, Mum.«
    »Was treibst du denn da unten?«, fragte ihre Mutter. »Ich dachte schon, ich hätte einen Einbrecher gehört.«
    »Ich geh nur noch mal schnell raus«, antwortete April. Sie nahm ihren Mantel vom Ende des Treppengeländers und zog ihn sich über. »Brauchst du irgendetwas?«
    »Wohin gehst du denn?«
    April dachte kurz nach. »In die Buchhandlung. Ich muss noch etwas für eine Hausarbeit nachschlagen.«
    Ihre Mutter strich sich die zerzausten Haare aus dem Gesicht. »Gott, du bist genau wie dein Vater«, sagte sie mit schwerer Zunge. »Sei bitte bis zum Abendessen wieder da, ich lass uns Pizza kommen.«
    April stand schon fast an der Tür, als ihre Mutter sie noch einmal zurückrief.
    »Ach, und Schatz? Könntest du mir aus dem kleinen Spirituosenladen an der Ecke noch zwei Flaschen Wein mitbringen? Sag einfach, dass er für mich ist, die kennen mich dort.«
    Das glaub ich dir aufs Wort , dachte April unglücklich.

Vierundzwanzigstes Kapitel

    E in helles Bimmeln ertönte, als April die Tür aufdrückte. Mr Gill sah sie hinter seiner Theke mit leicht verquollenen, geröteten Augen an, die verrieten, dass sie ihn

Weitere Kostenlose Bücher