Die Schule der Nacht
Shipman – sie alle bevorzugten einen bestimmten Opfertyp und konnten irgendwann gefasst werden, weil sie nie von ihrem Schema abwichen.«
»Aber was ist mit den Parallelen, die diese Fälle aufweisen?«
»Die gibt es, ja«, sagte der Inspector, nachdem er sie einen Moment lang nachdenklich angesehen hatte. »Allen drei Opfern wurden ähnlich tödliche Halswunden zugefügt, die drei lebten im selben Stadtteil, einer der Morde fand auf dem Friedhof, die anderen beiden in unmittelbarer Nähe statt. Aber das war es dann auch schon. Die Tatzeit variiert, einmal wurde der Mord im Freien, die beiden anderen Male im Haus der Opfer begangen. Es handelt sich in zwei Fällen um Männer, im dritten um eine Frau. Das Ganze weist einfach nicht die gängigen Muster auf, die auf einen Serienmörder schließen ließen.«
»Und wie wollen Sie jetzt weiter vorgehen?«
»Nicht ich, April – wir«, antwortete Reece ernst. »Ich schaffe das nicht allein, ich brauche Ihre Hilfe. Und Sie können mir nur helfen, wenn Sie mir wirklich alles sagen, was Sie wissen oder gesehen haben – zum Beispiel an dem fraglichen Abend in der Swain’s Lane: Sind Sie ganz sicher, dass Sie dort niemanden gesehen haben?«
Falls Reece ein guter Beobachter war, und davon ging April aus, konnte ihm nicht entgangen sein, dass bei seiner Frage ein Schatten über ihr Gesicht gehuscht war. Wahrscheinlich würde er ihre Reaktion als Angst interpretieren – Angst vor dem Mörder, Angst um ihr eigenes Leben, Angst davor, dass er erneut zuschlagen könnte. Und damit würde er auch nicht völlig falschliegen, aber die Wahrheit war, dass April vor allem Angst um Gabriel hatte. Sie war zwar auf dem Friedhof gewesen, hatte aber kaum etwas gesehen – im Gegensatz zu Gabriel, der sich dort länger als sie aufgehalten hatte, während sich der Mörder vermutlich immer noch versteckt gehalten hatte. Was, wenn er den Mörder gesehen hatte und wiedererkennen würde, womit er selbst zu einem potenziellen Opfer wurde? Oder… Oh Gott. Plötzlich kam April ein grauenhafter Gedanke – etwas, das sie bis jetzt noch nicht in Betracht gezogen hatte. Sie fühlte sich, als hätte ihr jemand einen Hieb in den Magen versetzt.
»Oh mein Gott.« Sie schlang die Arme um den Bauch und krümmte sich.
»April? Alles in Ordnung?«
»Entschuldigen Sie bitte, ich fühle mich plötzlich gar nicht gut«, murmelte sie, schob den Stuhl zurück und stürzte auf die Toilette. Keuchend stützte sie sich am Waschbeckenrand ab – warum war ihr das nicht schon früher aufgefallen? Dabei war es doch so offensichtlich. Gabriel Swift hatte ihr von Anfang an etwas vorgemacht. Natürlich war ihr nicht entgangen, dass er sich seltsam verhalten hatte – in der Schule, bei ihrer Begegnung auf dem Friedhof am Abend des Mordes und in der Nacht nach der Halloweenparty –, aber irgendwann war es ihm gelungen, ihr diesbezügliches Misstrauen zu zerstreuen. Und… was wenn es alles gelogen war? Wenn Gabriel Isabelle umgebracht hatte? Und anschließend meinen Vater?
April richtete sich auf und betrachtete sich im Spiegel. Jetzt stand ihr die Angst förmlich ins Gesicht geschrieben, weil plötzlich alles einen Sinn ergab. Warum hatte sie automatisch angenommen, dass noch eine dritte Person auf dem Friedhof gewesen war, als sie neben dem verletzten Fuchs gekniet hatte? Sie hatte zwar die dunkel glühenden Augen im Schatten der Bäume gesehen, aber es hätte auch Gabriel gewesen sein können, der dort gestanden hatte. Alles war so schnell gegangen, dass sie nicht mit Sicherheit sagen konnte, dass er es nicht gewesen war. Im Übrigen würde das auch alles andere erklären. Er hatte abgewartet, ob sie seinen Namen an die Polizei weitergeben würde, und als sie das nicht getan hatte, war er auf der Party auf sie zugekommen und… Oh Gott! Hatte er sie in dieser Nacht womöglich auf den Friedhof geführt, um sie umzubringen ? Fieberhaft ließ sie die Ereignisse des Abends noch einmal im Kopf Revue passieren. Denk nach, April, denk nach! Als Gabriel im Circle of Lebanon hinter ihr gestanden hatte, da hatte sie angenommen, dass er sie gleich küssen würde, aber möglicherweise hatte er ja etwas ganz anderes vorgehabt… Was wäre passiert, wenn sie sich in dem Moment nicht zu ihm umgedreht hätte? Und dann hatte sie etwas über ihren Vater gesagt, und er hatte es plötzlich auffallend eilig gehabt zu gehen. Hatte er in dem Moment begriffen, dass ihr Vater an irgendetwas dran war, und beschlossen, noch eine Weile
Weitere Kostenlose Bücher