Die Schule der Nacht
wahrscheinlich aus einem kleinen Nickerchen gerissen hatte. Aber nicht nur der Besitzer der Buchhandlung schien von dem über der Tür angebrachten Glockenspiel aufgewacht zu sein, sondern der gesamte Laden, und als die Tür wieder ins Schloss fiel, war es, als bliebe die Zeit stehen.
»Da sind Sie ja schon wieder«, sagte Mr Gill argwöhnisch und setzte seine Brille auf. »Was kann ich heute für Sie tun?«
»Ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht eine Art Verzeichnis haben, in dem alle Bücher, die Sie hier führen, aufgelistet sind.«
Mr Gill schnalzte missbilligend mit der Zunge. »So etwas brauche ich nicht. Ist alles hier oben gespeichert.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die schlohweiße Schläfe.
»Könnten Sie mir dann sagen, ob Sie dieses Buch hier dahaben?« April schlug das Notizbuch ihres Vaters auf und zeigte auf einen Eintrag. » Das infernalische Böse von Kingsley-Davis?«
Der alte Mann betrachtete den Titel. »Hmm… Das hatten wir tatsächlich hier. Das Buch war seinerzeit ziemlich gefragt, ist mittlerweile aber vergriffen. Wir hatten noch ein Exemplar da, aber das hat, glaube ich, die junge Dame neulich gekauft.«
»Welche junge Dame?«
»Oh, ein ganz reizendes junges Ding. Wunderbar schimmerndes Haar. Obwohl… nein, jetzt wo ich darüber nachdenke, hat sie das Buch am Ende dann doch nicht gekauft, das heißt, wir müssten es noch hierhaben.«
Der alte Mann erhob sich mühsam von seinem Stuhl und bedeutete ihr, ihm zum anderen Ende des Ladens zu folgen, wo er einen Samtvorhang zur Seite schob, der eine kleine Nische vom Rest des Raums trennte. Von dort aus führte eine Holzwendeltreppe in den ersten Stock hinauf, wo es eigentlich genauso aussah wie im Erdgeschoss, nur dass es hier sogar noch mehr Bücher gab. Vor sich hin murmelnd, ging Mr Gill die Regalreihen ab und las mit schräg gelegtem Kopf die Titel auf den abgegriffenen Lederrücken der Bücher.
»Ah, da ist es ja«, sagte er triumphierend, zog einen schmalen Band mit abgewetztem blauem Umschlag und verblasster goldener Aufschrift heraus und reichte ihn April ehrfurchtsvoll. »Eine ganz seltene Ausgabe. Hab nie eine zweite davon gesehen, und ich kann Ihnen versichern, dass sehr viele Leute danach gesucht haben.«
»Darf ich…?«, fragte April und zeigte auf einen Sessel neben dem Fenster.
»Oh, gewiss doch, gewiss«, sagte Mr Gill und schlurfte zur Treppe zurück. »Muss dann auch mal weitermachen. Sie sehen ja selbst, wie viel ich zu tun habe.«
Als er weg war, schlug April gespannt das Buch auf und las das Vorwort.
Mir obliegt die traurige Pflicht, den Leser im Rahmen dieses Buches über das wahre Grauen in Kenntnis zu setzen, das sich in unser aller Hinterhöfe versteckt. Es handelt sich hier nicht um ein historisches Grauen, wie es vielleicht einem jungen Mann beim Lesen über tote Könige und Königinnen einen angenehmen Schauer über den Rücken rieseln lassen mag, sondern um eine sehr wirkliche und gegenwärtige Bedrohung, welche die bereits unsicheren Grundfesten unserer Zivilisation erschüttern könnte, so ihr nicht mit der nötigen Vehemenz entgegengetreten wird. Es ist keine Krankheit, vor der die Reichen sich mit komfortablen Wasserklosetts und gehaltvoller Nahrung schützen könnten, und auch mit Bildung und Erziehung kann ihr nicht entgegengewirkt werden – die Gefahr lauert hinter den Türen der prächtigsten Herrenhäuser des Landes ebenso wie in den dunklen Gassen von Clerkenwell und Bow. Es ist meine innigste Hoffnung, dass ich durch die schriftliche Niederlegung all dessen, was mir bekannt ist, diese Teufel entlarven und unser Land ein für alle Mal von ihnen befreien kann. Ich bitte Sie, liebe Leser, nehmen Sie sich meine Worte zu Herzen, denn wenn es dieser Plage erlaubt wird, sich auszubreiten, wird alles, das uns lieb und teuer ist, für immer zunichtegemacht.
J. Kingsley-Davis, St. James, 1903
April lief es kalt über den Rücken. Das lag allerdings nicht allein an der düsteren Warnung, die das Vorwort des Autors enthielt, sondern vor allem daran, dass es eine frappierende Ähnlichkeit mit dem hatte, das ihr Vater seinem neuen Buch vorangestellt hatte.
Die Parallelen waren fast schon unheimlich – es sei denn, er hätte Kingsley-Davis’ Vorwort selbst gelesen –, aber hatte Mr Gill nicht gesagt, dass das Buch mittlerweile vergriffen und extrem selten war? Andererseits war ihr Vater Journalist gewesen und hätte mit Sicherheit Bücher ausfindig machen können, an die andere nicht so
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