Die Schule der Nacht
abzuwarten? Hatte sie womöglich den Mörder zu ihrem Vater geführt?
April schüttelte verzweifelt den Kopf. Das war alles zu viel. Sie bekam kaum noch Luft, und das Blut rauschte ihr in den Ohren. Wie konnte ich nur so blind sein?
Und dann hatte Gabriel sie mitten in der Nacht aus dem Haus gelockt, um mit ihr zu den Teichen im Park zu gehen. Was wäre passiert, wenn sie mitgegangen wäre? Schließlich fiel auch noch das letzte Puzzleteilchen an seinen Platz. Gabriel hatte mitbekommen, dass sie am folgenden Morgen nicht in der Philosophiestunde war, und musste geahnt haben, dass Mr Sheldon sie nach der Schule zur Rede stellen würde. Sie hatte ihn ja selbst gesehen, als er nervös am Schultor stand und auf irgendjemand zu warten schien. Ich habe ihm die Gelegenheit gegeben, meinen Vater umzubringen!
Sie zuckte erschrocken zusammen, als jemand gegen die Toilettentür hämmerte.
»April? Ist alles in Ordnung? Ich komme jetzt rein, okay?« Inspector Reece öffnete die Tür einen Spaltbreit und blickte prüfend in den Raum. April riss hastig ein paar Papiertücher aus dem Spender und wischte sich übers Gesicht. Sie konnte ihm nichts von ihrem Verdacht gegen Gabriel sagen – noch nicht. Vorher brauchte sie einen Beweis dafür, dass ihr Verdacht auch wirklich begründet war.
»Alles okay«, sagte sie hastig. »Mir war bloß ein bisschen übel. Wahrscheinlich die Lasagne.«
»Und nicht meine Frage, ob Sie an dem Abend noch jemand anderen auf der Swain’s Lane gesehen haben?«
»Wie bitte? Nein, natürlich nicht. Ich habe in letzter Zeit einfach einen ziemlich nervösen Magen.«
Reece betrachtete sie nachdenklich. Ihm war anzusehen, dass er ihr diese Erklärung nicht abnahm. »Gut. Dann bringe ich Sie jetzt wohl besser wieder nach Hause.«
»Mum?«, rief April, nachdem sie die Tür hinter sich zugemacht hatte.
Sie ging in die Küche, wo der Mantel ihrer Mutter über einem Küchenstuhl hing. Auf dem Tisch standen ihre Handtasche und ein leeres Weinglas mit einem Lippenstiftabdruck am Rand.
»Mum? Bist du da?«
Sie ging die knarrende Treppe zum Schlafzimmer ihrer Eltern hoch, öffnete die Tür einen Spaltbreit und spähte hinein. Wie erwartet lag ihre Mutter bäuchlings auf dem Bett, alle Glieder weit von sich gestreckt. Wahrscheinlich hatte sie mal wieder einen kleinen Cocktail aus Wein und Schlaftabletten zu sich genommen. April konnte es ihr nicht wirklich verdenken, es gab Momente, in denen sie selbst auch gern alles ausgeblendet hätte. Aber nicht jetzt – jetzt wollte sie hellwach sein. Keine Ablenkung, nichts, was ihren Schmerz dämpfte, sondern die direkte Konfrontation mit den Ereignissen, so quälend es auch war. Das war die einzige Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden. War Gabriel der Mörder? Bei dem Gedanken daran wurde ihr übel, aber sie musste aufhören, immer nur darüber nachzudenken, und endlich anfangen zu handeln. Aus welchem Grund könnte er ihren Vater umgebracht haben? Hatte er möglicherweise irgendetwas über ihn herausgefunden? War er hergekommen, um nach etwas Bestimmtem zu suchen? Nach etwas, das ihr Vater bei seinen Recherchen aufgedeckt hatte? Egal wie die Antwort lautete, sie brauchte Beweise, die ihren Verdacht bestätigten – oder entschärften. Und welcher Ort würde sich besser eignen, um mit ihrer Suche zu beginnen, als dieser? Der Tatort, der Ort, an dem ihr Vater umgebracht worden war.
Leise ging sie die Treppe wieder hinunter, blieb zögernd vor dem Arbeitszimmer stehen und öffnete schließlich mit zitternder Hand die Tür. Sie ging hinein, setzte sich langsam ausatmend auf eine Ecke des Schreibtischs und sah sich um. Bis auf das auffällige Fehlen des Teppichs, der beinahe den kompletten Boden bedeckt hatte, ließ nichts in dem Raum darauf schließen, dass sich hier etwas Entsetzliches ereignet hatte. Aber genau das war es, was ihr zu schaffen machte – die Spuren des Kampfes waren zwar beseitigt worden, aber damit waren gleichzeitig auch alle Spuren ihres Vaters aus dem Raum verschwunden. Das Arbeitszimmer war so aufgeräumt und peinlich sauber, wie es das zu seinen Lebzeiten nie gewesen war, selbst den Bürostuhl hatte man ordentlich unter den Schreibtisch geschoben. April zog die Schubladen auf: leer. Noch nicht einmal eine Kaffeetasse oder eine zerknitterte Zeitung auf dem Tisch deuteten darauf hin, dass in diesem Raum jemals jemand gearbeitet hatte. Traurig strich sie mit den Fingerkuppen über das Holz der Tischplatte und stellte sich vor, dass die Hände
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