Die Schule der Nacht
so etwas auch nur denken?«
»Okay, dann erklär mir, was du an dem Abend, an dem Isabelle Davis ermordet wurde, auf dem Friedhof zu suchen hattest? Und wo bist du an dem Abend gewesen, an dem Alix Graves umgebracht wurde?«
Gabriel blickte zu Boden. »Ich habe dir gesagt, dass es Dinge gibt, über die ich nicht…«, begann er und verstummte dann.
»Was? Die du mir nicht sagen kannst, weil ich sie nicht verstehen würde? Oder weil du mir dann gestehen müsstest, was du getan hast?«
Er hielt sie an den Handgelenken fest und sah ihr in die Augen. »Ich habe nichts getan.«
»Wirklich? Warum sagst du mir dann nicht einfach, was los ist! Was soll diese ganze Geheimnistuerei?«
»Du würdest es mir nicht glauben, wenn ich es dir sagen würde.«
»Warum lässt du mich das nicht selbst entscheiden? Ich habe gerade meinen Vater begraben, Gabriel. Das Mindeste, was du tun kannst, ist, mir zu erzählen, was du darüber weißt. Wer hat ihn umgebracht?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung«, sagte er, aber sein ausweichender Blick strafte ihn Lügen.
»Du weißt doch etwas darüber. Bitte, Gabriel – sag es mir!«
»Ich kann nicht!«, stieß er heftig hervor.
»Dann lass mich in Ruhe!«, entgegnete sie genauso heftig, schüttelte seine Hände ab und wollte zum Haus zurückstürmen. Gabriel sprang von der Bank auf und versperrte ihr den Weg.
»Lass mich vorbei!« Aufgebracht stemmte sie die Hände in die Hüften.
»Erst wenn du mit mir geredet hast.«
»Vergiss es.«
»April, bitte!« In seinen Augen flackerte Verzweiflung auf. »Sei nicht dumm.«
»Du nennst mich dumm? Warum? Weil ich hinter dein Geheimnis gekommen bin?«, sagte sie und versuchte, ihre Stimme selbstsicherer klingen zu lassen, als sie sich fühlte. »Weil ich weiß, dass du ein Mörder bist?«
»Weil du dich nur noch mehr in Gefahr bringst, deswegen!«, rief er.
Jetzt kroch tatsächlich Angst in ihr hoch. Welche Gefahr? Ging die Gefahr von ihm aus? Gabriel stand zwischen ihr und dem Haus. Sie blickte an seiner Schulter vorbei zu der gelb lackierten Tür. Sie war verschlossen. Warum schaut denn niemand zum Fenster hinaus? Sie versuchte, sich an ihm vorbeizuschieben, aber er breitete die Arme aus.
»Lass es mich dir erklären«, bat er und kam einen Schritt auf sie zu.
In diesem Moment hörte sie einen Bus vorbeifahren und drehte sich, ohne weiter nachzudenken, um und rannte in die entgegengesetzte Richtung davon.
»April, bleib stehen!«, rief er ihr hinterher. »Wo willst du denn hin?«
Weg von dir, dachte sie, während sie, ohne noch einmal zurückzuschauen, quer über den Platz auf die Kirche zurannte.
»Komm zurück!«, schrie er, aber sie dachte gar nicht daran.
Der rote Bus hielt an der vor einem Pub namens The Flask gelegenen Haltestelle, und sie erwischte ihn gerade noch, bevor die Türen sich zischend hinter ihr schlossen.
»Da hat es aber jemand ganz schön eilig, hm?«, sagte der Fahrer freundlich.
»Ja, ich bin auf der Flucht vor einem Serienkiller«, keuchte April.
Der Fahrer lachte und fuhr wieder an. April sah aus einem der Seitenfenster, wie Gabriel schlitternd an der Haltestelle zum Stehen kam und dem Bus hinterherstarrte.
»Wohin soll’s denn gehen?«
»Wie bitte?«
»Wohin möchten Sie?«
April kramte eine Handvoll Kleingeld aus ihrer Manteltasche.
»Egal wohin, nur weg von hier.«
Nachdem der Bus Highgate verlassen hatte und durch Kentish Town und Camden gefahren war, kam er wegen des Londoner Feierabendverkehrs schließlich nur noch stockend voran. Jetzt, da sie sicher sein konnte, Gabriel abgehängt zu haben, entspannte April sich zum ersten Mal an diesem Tag. Sie hatte einen Fensterplatz auf dem Oberdeck und genoss es fast, auf die an ihr vorbeiziehende Stadt mit ihrer vorweihnachtlichen Beleuchtung und blinkenden Neonreklame zu blicken. Die Schaufenster der Geschäfte verströmten warmes einladendes Licht, und die die Bürgersteige bevölkernden Menschen wirkten glamouröser als sonst, wie sie in Mäntel und Schals gehüllt vorüberflanierten. Viele von ihnen waren mit großen Tragetaschen beladen, in denen sich zweifellos die ersten erstandenen Weihnachtsgeschenke stapelten. April spürte, wie ihr eine Träne über die Wange lief. Gott, das muss endlich aufhören. Ich kann doch nicht ständig wegen allem und jedem anfangen zu weinen. Aber so einfach war es nicht. Dieses Jahr würde sie das erste Mal Weihnachten ohne ihren Vater feiern, und – so absurd der Gedanke auch war – es würde
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