Die Schule der Nacht
tun sollte, niemand, der sie neugierig oder mitleidig ansah, niemand, der sich weigerte, ihr irgendetwas zu erklären – hier ging sie in der Menge unter, war bloß eine unter vielen. Aus irgendeinem Grund schienen die Lichter hier heller zu leuchten, die Luft süßer und verheißungsvoller zu duften. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter einmal gesagt hatte, dass Weltstädte eine ganz eigene Energie ausstrahlten. Immerhin eine Sache, bei der sie mit ihr einer Meinung sein konnte.
April ließ sich mit der Menschenmenge an der Oper vorbeitreiben und schlenderte durch die belebten Geschäftsstraßen, als sie plötzlich ihre Lieblingspatisserie entdeckte. So wie Audrey Hepburn sich an den Auslagen von Tiffany nicht hatte sattsehen können, liebte April es, sich im Schaufenster die wunderschön dekorierten Torten und Kuchen und kunstvollen Pralinenarrangements anzusehen. Während sie eine Hand gegen die kalte Scheibe presste, klimperte sie mit dem kläglichen Rest ihres Kleingelds in der Manteltasche und wünschte sich, sie hätte noch genug, um sich eine heiße Schokolade leisten zu können.
»Ich wusste, dass ich dich hier finden würde.«
April wirbelte herum. Es war Gabriel. Er hatte sie aufgespürt.
Neunundzwanzigstes Kapitel
M it dem Rücken gegen das Schaufenster gepresst, blickte sie sich panisch um wie ein Kaninchen in der Falle. Gabriel, der ihren gehetzten Ausdruck sah, trat einen Schritt auf sie zu.
»Alles okay, April. Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er und streckte die Hände nach ihr aus. Aber da hatte sie sich auch schon von der Scheibe abgestoßen und war losgerannt – mitten in eine Frau hinein, die einen Pappbecher Kaffee in der Hand hielt, der in einer Explosion aus milchiger brauner Brühe und Schaum auf den Asphalt klatschte.
»Hey!«, rief die Frau wütend, aber April hörte nur den Wind, der an ihren Ohren vorbeirauschte. Panisch warf sie einen Blick über die Schulter und sah, dass Gabriel ihr hinterherlief. Nein! Sie raffte ihr Kleid ein Stückchen höher, um besser laufen zu können, einmal mehr dankbar, sich heute Morgen für die Ballerinas entschieden zu haben, und hetzte, den Passanten ausweichend, im Zickzackkurs den Gehweg entlang. An der nächsten Ecke überquerte sie die Straße, wäre beinahe in ein Black Cab hineingerannt und flüchtete sich in eine schmale Gasse. Sie wagte nicht, hinter sich zu blicken, um zu sehen, wie dicht Gabriel ihr auf den Fersen war. Aus dem Augenwinkel nahm sie die kleinen Lädchen mit den hübschen alten Erkerfenstern nur verschwommen wahr, während sie auf das andere Ende der Gasse zulief und gerade noch rechtzeitig schlitternd zum Stehen kam, als wie aus dem Nichts plötzlich ein Bus direkt vor ihrer Nase an ihr vorbeizischte. Links oder rechts? Links oder rechts?, schrie eine Stimme in ihrem Kopf.
»April! Warte doch!« Gabriels Stimme klang, als wäre er dicht hinter ihr. Zu dicht. Sie bog nach rechts ab, preschte die Straße entlang, schlug einen Haken in eine weitere Gasse und hoffte, ihren Verfolger in dem Wirrwarr winziger Straßen abhängen zu können. Irgendwann war sie in einem kleinen Gässchen angekommen, das zur Hauptverkehrsstraße zurückführte. Wohin jetzt? Sie schloss sich dem Fußgängerstrom an, der sich den breiten Bürgersteig entlangschob – da, wo viele Menschen waren, war sie sicherer, hoffte sie.
An der nächsten Kreuzung rannte sie über die Fahrbahn und schlängelte sich zwischen hupenden Autos und blendenden Scheinwerfern hindurch, doch als sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite ankam, stellte sie fest, dass sie jetzt mitten auf dem Trafalgar Square stand. Der Platz wimmelte zwar nur so vor Touristen und Tauben, war aber zu weitläufig, um ihr wirklich Schutz zu bieten. Außerdem brauchte sie dringend eine Pause, ihre Beine zitterten, und ihre Lungen brannten. Ihre letzten Kräfte mobilisierend, lief sie eine große weiße Treppe hinauf und flüchtete sich hinter eine der Säulen, die den Aufgang einer Kirche oder eines Justizgebäudes oder Ähnliches flankierten. Aber April nahm im Moment sowieso kaum etwas um sich herum wahr, alles, was sie interessierte, war die Möglichkeit, sich dort verstecken zu können. Keuchend ließ sie sich an dem kalten glatten Stein zu Boden sinken und schnappte nach Luft. Als sich ihr Atem nach einer Weile beruhigt hatte, spähte sie vorsichtig um die Ecke und suchte den von Menschen bevölkerten Platz nach Gabriel ab. Vielleicht habe ich ihn ja wirklich abgehängt,
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