Die Schule der Nacht
und er hat die Verfolgung aufgegeben, dachte sie.
Aber sie hatte sich zu früh gefreut. Ein paar Meter von ihr entfernt stieg er beinahe gemächlich die Treppe hoch und kam direkt auf sie zugeschlendert, als wäre nichts geschehen. Wie hat er es geschafft, so schnell hier zu sein?
»April, bitte lauf nicht gleich wieder weg. Es tut mir leid, dass ich dich vorhin so erschreckt habe. Ich wollte dir keine Angst einjagen. Ich will doch nur mit dir reden«, sagte er, die Arme nach vorne gestreckt und die Handflächen nach unten zeigend, als würde er versuchen, ein scheues Tier zu beruhigen. »Bitte, April.«
Aus dem Augenwinkel heraus sah sie ein paar Touristen mit Kameras in den Händen die Treppe herunterkommen und begann, schrill und durchdringend zu schreien wie in einem alten Horrorfilm. Alle, die in Hörweite waren, drehten erschrocken die Köpfe, was April sofort ausnutzte. Vor Gabriel zurückweichend, brüllte sie: »Hilfe! Hilfe! Er hat meinen Geldbeutel geklaut, und jetzt will er mir auch noch mein Handy wegnehmen!« Sie hielt es in die Höhe, um die Wahrheit ihrer Behauptung zu unterstreichen.
Ein Mann mittleren Alters in einer dicken Daunenjacke trat beherzt vor und stellte sich zwischen sie und Gabriel.
»Hey, Alter«, fuhr er Gabriel in rauem New Yorker Akzent an. »Belästigst du die Lady etwa?«
»Sie ist meine Freundin«, antwortete Gabriel, ohne April aus den Augen zu lassen.
»Er lügt! Das stimmt nicht!«, schrie April.
»Hör zu, Kumpel, ich würde vorschlagen, du lässt es für heute gut sein«, meinte der New Yorker. »Ich hab das Gefühl, dass sie im Moment eher die Schnauze voll von dir hat.«
»Genau, lass sie in Ruhe!«, rief eine junge Schwarze, die in der Nähe stand.
»Ich rufe die Polizei!«, sagte ein hinzugetretener Mann und zückte sein Handy.
April wirbelte herum, rannte um die nächste Ecke, spurtete zwischen hoch aufragenden weißen Gebäuden hindurch und bog dann scharf links in eine schmale Seitenstraße ein. Im Laufen scrollte sie in ihrem Handy ungeschickt zu Reece’ Nummer und drückte auf die »Anrufen«-Taste.
»Komm schon, geh ran!«, keuchte sie und presste sich das Telefon ans Ohr, ohne ihr Tempo zu verlangsamen.
»Hier spricht Detective Inspector Ian Reece…«
»Inspector! Ich bin’s… April… April Dunne…«
»…bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Ton.«
Verdammter Mist! Die Mailbox.
Als es piepte, versuchte sie es noch einmal. »Inspector Reece… hier spricht April Dunne… Ich bin…« – sie blickte sich verzweifelt um – »…ich bin in… in der Nähe des Trafalgar Square. Ich werde verfo…«
Und dann sprach sie plötzlich ins Leere. Das Handy war ihr aus der Hand gerissen worden. Sie fuhr herum, stolperte und fiel zu Boden. Gabriel stand über ihr und betrachtete das Display ihres Handys.
»Wen hast du angerufen? Die Polizei ?«
April setzte zum nächsten Schrei an, aber er war schneller. Blitzschnell beugte er sich zu ihr hinunter und streckte die Arme nach ihr aus. Das war’s, dachte sie panisch, erwürgt mit gerade mal sechzehn Jahren. Aber zu ihrer Überraschung zog er sie bloß einfach wieder auf die Beine.
»Was soll das?«, fragte er wütend, und April stellte verwundert fest, dass er kein bisschen außer Atem zu sein schien. »Warum rennst du vor mir weg?«
»Weil du ein Mörder bist!«, schrie sie und trat ihm mit voller Wucht gegen das Schienbein.
»Au, verdammt!« Gabriel krümmte sich vor Schmerz zusammen, worauf April, so schnell sie konnte, wegrannte. Am Ende der Gasse führte eine Treppe in eine Art Unterführung hinein. Immer drei Stufen auf einmal nehmend, stürzte April in die Tiefe, das Echo ihrer Schritte und ihres eigenen Atems in den Ohren, als sie etwas weiter vorne plötzlich eine Gruppe von Leuten stehen sah.
»Hilfe! Bitte helfen Sie mir!«, rief sie atemlos. »Ich werde verfolgt!«
Ein junger Typ fing sie auf, als sie in ihn hineinrannte. »Hey, hey!«, sagte er lachend. »Wer ist denn hinter dir her, Kleine?«
Er war ungefähr Mitte zwanzig, trug ein Polohemd und hatte sich die Haare zurückgegelt. Seine drei Begleiter waren etwa in seinem Alter und hatten wie er auffällige Retro-Trainingshosen und kurzärmlige Shirts an.
»Der da!«, sagte April schwer atmend und zeigte auf Gabriel, der inzwischen oben auf dem Treppenabsatz stand und dessen Silhouette sich fast gespenstisch vor dem Eingang der Unterführung abzeichnete.
»Wer ist der Kerl? Dein Freund?«, fragte einer der Typen
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