Die Schule der Nacht
über solche Fragen Gedanken machen«, ergänzte Mr Sheldon. »Hier an der Ravenwood School erwarten wir von Ihnen, dass Sie die Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Bohren Sie nach, benutzen Sie Ihren Verstand und hinterfragen Sie alles. Ich verspreche Ihnen, dass die Welt dadurch wesentlich interessanter wird.«
Als der Gong ertönte und die Schüler ihre Sachen zusammenpackten, klatschte Mr Sheldon in die Hände und öffnete einen Karton, der auf seinem Pult stand.
»Bevor Sie gehen, möchte ich Ihnen noch Ihre Hausaufgabe mitgeben.« Er hielt ein schwer aussehendes Buch in die Höhe und drückte jedem Schüler, der an ihm vorbeikam, ein Exemplar in die Hand. Ein paar brachen beim Anblick des dicken Wälzers in Stöhnen aus.
»Keine Sorge, das ist die Gesamtausgabe dieses Autors. Natürlich können Sie das Buch gerne komplett lesen, aber für meinen Kurs reicht die Lektüre der Kurzgeschichte ›Random Quest ‹ . Sie ist leicht verständlich und beinhaltet alles, was Ihr Herz begehrt: Krieg, Liebe und Zeitreisen. Stellen Sie sich Brad und Angelina in den Hauptrollen vor, wenn es Ihnen hilft. Wir sprechen dann in der nächsten Stunde darüber.«
Als April an ihm vorbeikam und er ihr das dicke Buch reichte, sagte er leise: »Sie haben gut mitgedacht, April. Das gefällt mir.«
Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er sich schon zwei Mädchen zugewandt, die in eine Zeitschrift vertieft waren.
»Genau davon spreche ich«, rief er, griff nach dem Magazin und warf es in den Papierkorb neben seinem Pult. »Sie lassen sich vom Promikult völlig vereinnahmen. Haben die jungen Damen noch nie etwas davon gehört, dass Gott die Anbetung von Götzenbildern verurteilt? Benutzen Sie gefälligst Ihren eigenen Kopf zum Denken!«
»Aber in dem Heft steht das letzte Interview mit Alix Graves«, jammerte das größere der beiden Mädchen.
»Alix Graves ist tot, Lucy«, sagte Mr Sheldon. »Ich bin mir sicher, dass Sie bis spätestens nächste Woche jemand neuen gefunden haben, den Sie anhimmeln können.«
Von der unsensiblen Reaktion ihres Lehrers genauso überrascht wie von der Tatsache, dass er Alix Graves überhaupt kannte, blickte April auf, als Gabriel sich plötzlich so ungestüm an ihr vorbeidrängte, dass ihr die Bücher aus der Hand fielen und auf den Boden klatschten. Als sie sich bückte, um sie wieder aufzuheben, hörte sie Gekicher und spürte, wie alle sie anstarrten. Na toll. Klappt ja super mit meiner Nichtauffall-Taktik.
»Alles okay?«
Sie hob den Kopf und blickte direkt in Benjamin Osbournes blaue Augen. Er streckte ihr mit besorgter Miene die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Mein Gott, sieht der gut aus, dachte sie überwältigt.
»Ja… Ja, alles okay«, murmelte sie, packte hektisch ihre Sachen zusammen und eilte aus dem Klassenzimmer. Als sie sich in der Tür noch einmal umdrehte, sah sie, dass Benjamin ihr mit einem Lächeln auf den perfekten Lippen hinterherblickte.
»Ist wirklich alles okay?«
April nickte und trat hastig in den Flur hinaus. Nichts war okay. Absolut gar nichts. Sie war in ihrem Stolz verletzt, war ausgelacht worden, hatte sich völlig überfordert gefühlt und… na ja, Benjamin hielt sie wahrscheinlich für ein motorisch und geistig minderbemitteltes Mädchen, das ständig rot anlief. Aber das war noch nicht einmal das Schlimmste. Nein, was ihr am meisten zusetzte, war die Tatsache, dass Gabriel sie angerempelt hatte. Sie konnte es zwar nicht beschwören, war sich aber ziemlich sicher, dass er ihr etwas zugezischt hatte, als er sich an ihr vorbeidrängte. Und es hatte sich sehr nach »Besser, du verschwindest von hier!« angehört.
Viertes Kapitel
A pril war völlig verwirrt und verunsichert. Nach Mr Sheldons Philosophiekurs war sie vor ihren Mitschülern in den Pausenhof geflohen, weil sie ihre neugierigen Blicke nicht ertragen hatte. Sie hatte sich so sehr gewünscht, diesen Tag zu überstehen, ohne sich lächerlich zu machen, aber nicht einmal das hatte sie hinbekommen. Verdammt noch mal, was ist bloß los mit mir? Warum muss ich mich immer blamieren – ganz besonders dann, wenn gerade irgendwelche süßen Jungs in der Nähe sind? Sie ließ sich auf eine Bank fallen und stieß einen tiefen Seufzer aus. Nachdem sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, verwandelte sich ihre Verlegenheit in Wut. Warum waren die Leute hier an der Schule auch alle so gemein? Mr Sheldon hatte doch ganz genau gewusst, dass es ihr erster Schultag war, wieso hatte er sie aufrufen
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