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Die Schule der Nacht

Die Schule der Nacht

Titel: Die Schule der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Mia
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Standpunkt her gesehen ist das eine tadellose Antwort. Aber wir betreiben hier Philosophie, und deswegen frage ich: Was ist an dieser Aussage problematisch?«
    Er hielt einen Moment inne und ließ den Blick langsam durch den Raum wandern. »Wie wäre es mit Ihnen, Miss Dunne?«
    Entsetzt wurde April klar, dass er ihr direkt in die Augen sah. Woher wusste er, dass sie nicht aufgepasst hatte?
    »Können Sie uns sagen, was an Emilys doch sehr lehrbuchhaften Erklärung falsch ist?«
    April wandte den Kopf und sah, dass der rosige Schimmer auf Emilys Wangen hektischen roten Flecken gewichen war und ihre Banknachbarin sie finster anstarrte.
    »F… Falsch?«, stotterte April.
    »Emily scheint alle Aspekte berücksichtigt zu haben.« Mr Sheldon strich sich nachdenklich übers Kinn. »Evolution, Mutationen – das klingt alles vollkommen einleuchtend, nicht wahr?« Er schüttelte kaum merklich den Kopf und wandte sich wieder den eifrig an seinen Lippen hängenden Schülern in den vorderen Reihen zu. »Vielleicht hat jemand anderes eine…«
    »Evolution«, platzte April heraus.
    »Verzeihung?«
    »Also… ähm… Emily setzt voraus, dass die Evolution tatsächlich stattgefunden hat.«
    »Oha.« Mr Sheldon lächelte in sich hinein. »Wie es scheint, haben wir eine wahre Christin in unserer Mitte, meine Damen und Herren«, sagte er und erntete damit erneutes Gelächter. »Aber…«, er hob die Hände, um die Schüler wieder zu beruhigen, »April hat nicht ganz unrecht. Emily geht in ihrer wissenschaftlichen Erklärung tatsächlich davon aus, dass die gängigen Erklärungsmuster Tatsachen sind. Und April beweist mit ihrer Antwort immerhin, dass sie in der Lage ist, selbstständig zu denken.«
    April spürte, wie sie rot wurde.
    »Bevor wir ihr allerdings Beifall spenden, möchte ich darauf hinweisen, dass ihre Antwort zugleich von geistiger Beschränktheit zeugt«, fuhr Mr Sheldon fort. April spürte, wie sie noch röter wurde, als Benjamin Osbourne sich zu ihr umdrehte, sich dann an seinen Freund wandte und ihm etwas ins Ohr flüsterte, woraufhin beide lachten.
    »April mag zwar in der Lage sein, selbstständig zu denken«, sagte Mr Sheldon, »aber sie bewegt sich immer noch innerhalb der konventionellen Denkmuster. Kann man, nur weil man einmal beobachtet hat, wie ein Küken aus einem Ei geschlüpft ist, automatisch darauf schließen, dass das Gleiche auf die Millionen von anderen Eiern zutrifft, die jährlich gelegt werden? Ziehen Sie, wenn Sie einen Stuhl mit vier Beinen sehen, die logische Schlussfolgerung, dass alle Stühle zwingend vier Beine haben müssen? Eben nicht. Tatsächlich wissen wir so gut wie nichts über Eier, woher sie kommen, was sie sind oder ob sie überhaupt etwas mit Hühnern zu tun haben. Letzten Endes sind alles doch nur Vermutungen. Und genau das ist das Wesen der Philosophie: Es geht darum, herkömmliche Denkmuster auf den Kopf zu stellen und alles, was man sieht und was man zu wissen glaubt, infrage zu stellen.«
    April warf Mr Sheldon einen leicht beleidigten Blick zu, aber er beachtete sie gar nicht mehr.
    »Überlegen Sie doch mal: Was wissen Sie wirklich über die Menschen um Sie herum? Was wissen Sie über Ihre Mutter, Ihren Vater, Ihre Geschwister? Nimmt Ihr Bruder womöglich Drogen? Ist Ihre Schwester noch Jungfrau?«
    Hier und da ertönte nervöses Kichern, aber Mr Sheldon blieb ernst.
    »Wie sieht es mit Ihrem Sitznachbarn aus?«
    April brauchte nicht zu Emily hinüberzusehen, um zu wissen, dass sie sie mit Blicken erdolchte. Stattdessen schaute sie in die andere Richtung – und hielt unwillkürlich die Luft an. Gabriel Swift starrte sie mit leicht zusammengekniffenen Augen unverhohlen an. Hastig drehte sie den Kopf weg und wurde prompt wieder rot.
    »Was wissen Sie wirklich über Ihre Mitschüler?«, fragte Mr Sheldon noch einmal. »Natürlich vermuten Sie nicht, dass sie Böses im Schilde führen könnten – immerhin gehen Sie mit ihnen auf die gleiche Schule und sitzen jeden Tag neben ihnen. Vielleicht liegen Sie mit dieser Einschätzung richtig. Vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise haben sie vor, eine Bombe in diesem Klassenraum zu deponieren und uns alle in die Luft zu sprengen. Vielleicht noch Schlimmeres.«
    Wieder kam in der Klasse nervöses Lachen auf. April sah noch einmal zu Gabriel, aber der hatte sich inzwischen in seinen Stuhl zurückgelehnt, und ein anderer Schüler blockierte ihre Sicht.
    »Ich möchte, dass Sie sich in diesem Kurs – an dieser Schule – genau

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